Es stirbt in mir
ob ich ihn liebe.«
»Dann überstürze deine Entscheidung nicht«, rate ich ihr. Diese sentimentalen Einwände langweilen mich. Ich kann nicht begreifen, wie jemand, der alt genug ist, um sich auszukennen, überhaupt heiraten kann. Wieso braucht Liebe einen Vertrag? Warum soll man sich in die Klauen des Staates und in seine Macht geben? Warum die Anwälte an seinem Vermögen herummanipulieren lassen? Die Ehe ist etwas für Unreife, Unsichere und Ignoranten. Wir, die wir derartige Institutionen durchschauen, sollten uns damit begnügen, ohne Rechtzwang miteinander zu leben, eh Toni? Eh? »Außerdem, wenn du ihn heiratest, wird er vermutlich verlangen, daß du Guermantes aufgibst«, sage ich. »Das wird er bestimmt nicht dulden.«
»Du weißt von mir und Claude?«
»Natürlich.«
»Du weißt immer alles.«
»Das war ziemlich eindeutig, Jude.«
»Ich dachte, deine Gabe hat nachgelassen.«
»Hat sie auch, Jude, und sie läßt immer weiter nach. Aber dies war offensichtlich. Für’s bloße Auge.«
»Na schön. Was hältst du von ihm?«
»Er ist tödlich. Er ist ein Killer.«
»Du beurteilst ihn völlig falsch, Dav.«
»Ich war in seinem Kopf, Jude. Ich habe ihn gesehen. Er ist unmenschlich, widerlich. Andere Leute sind nur Spielzeug für ihn.«
»Wenn du dich jetzt hören könntest, Dav! So haßerfüllt, so voll Eifersucht…«
» Eifersucht? Bin ich so inzestuös?«
»Warst du doch immer«, antwortet sie. »Aber lassen wir das. Ich dachte wirklich, es würde dir Spaß machen, Claude kennenzulernen.«
»Hat es auch. Er ist faszinierend. Kobras sind ebenfalls faszinierend.«
»Zum Teufel mit dir, Dav!«
»Soll ich so tun, als gefiele er mir?«
»Auf deine Gefälligkeiten kann ich verzichten.« Die alte eiskalte Judith.
»Wie hat Karl auf Guermantes reagiert?«
Pause. Endlich: »Ziemlich negativ. Weißt du, Karl ist sehr konservativ. Genau wie du.«
»Ich?«
»O mein Gott, Dav, du bist furchtbar spießig! Du bist ein richtiger Puritaner. Mein ganzes Leben lang hast du mir immer Moral gepredigt. Als ich zum erstenmal mit einem Mann geschlafen habe, bist du sofort gekommen und hast mir mit dem Finger gedroht…«
»Warum mag Karl ihn nicht?«
»Keine Ahnung. Er findet, daß Claude ein schlechter Mensch ist. Ein Ausbeuter…« Ihre Stimme klang plötzlich ausdruckslos. »Vielleicht ist er nur eifersüchtig. Er weiß, daß ich noch immer mit Claude schlafe. Himmel, Dav, warum streiten wir uns schon wieder? Warum können wir uns nicht vernünftig unterhalten?«
»Ich streite mich nicht. Du bist diejenige, die mit dem Schreien angefangen hat.«
»Aber du bringst mich ständig auf die Palme. Du spionierst in mir herum, und dann reizt du mich und versuchst mich runterzumachen.«
»Alte Gewohnheiten lassen sich nicht so schnell ablegen, Jude. Aber ehrlich: Ich bin dir nicht böse.«
»Das klingt so pikiert.«
»Ich bin nicht böse. Du bist böse. Du bist böse geworden, als du merktest, daß Karl und ich über deinen Freund Claude einer Meinung sind. Die Leute werden immer böse, wenn sie etwas hören müssen, was sie nicht hören wollen. Paß auf, Jude, mach, was du willst. Wenn Guermantes dir gefällt – bitte sehr.«
»Ach, ich weiß nicht. Ich weiß wirklich nicht…« Eine unerwartete Konzession: »Vielleicht ist an meinem Verhältnis zu ihm wirklich irgendwas ein bißchen krank.« Ihre stahlharte Selbstsicherheit ist plötzlich wie weggeblasen. Das ist das Wunderbare an ihr: alle zwei Minuten eine andere Judith. Jetzt, weich geworden, klingt sie alles andere als selbstsicher. Einen Moment noch, und sie wird ihre Besorgnis nach außen richten, von ihren eigenen Problemen weg auf mich. »Kommst du nächste Woche zum Abendessen? Wir möchten gern ein paar Stunden mit dir Zusammensein.«
»Ich will’s versuchen.«
»Ich mache mir große Sorgen um dich, Dav.« Da kommt es schon. »Du hast am Samstag so abgespannt ausgesehen.«
»Es ist eine schwere Zeit für mich. Aber ich werde es schon schaffen.« Ich habe keine Lust, über mich selbst zu reden. Ich will ihr Mitleid nicht, denn wenn sie mir das ihre gibt, fange ich an, mir auch das meine zu geben. »Hör mal, Jude, ich rufe dich an. Okay?«
»Ist es immer noch so schlimm, Dav?«
»Ich gewöhne mich daran. Ich akzeptiere allmählich alles. Es wird schon gutgehen. Wiedersehen, Jude. Viele Grüße an Karl.« Und an Claude, füge ich hinzu, während ich den Hörer auflege.
Mittwochvormittag. Zur Universität, um meine Meisterwerke abzuliefern.
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