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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Schmerz in der Brust: ein glühend heißer Metallklumpen hinter meinem Brustbein. Ich kann nichts mehr sehen. Ich kann nur noch fühlen. Wo sind meine Füße? Endlich falle ich. Seht nur, wie schnell mir die Stufen entgegenstürzen! Der kalte Kuß der Steine zerschrammt mir die Wange. Vielleicht habe ich schon das Bewußtsein verloren; woher soll ich das wissen? Einen Trost aber gibt es wenigstens: Tiefer sinken als jetzt kann ich nicht mehr.
22
    Als er Kitty kennenlernte, war er mehr als bereit, sich zu verlieben, war er für ein emotionales Engagement überreif. Vielleicht lag darin das Problem: Was er für sie empfand, war weniger Liebe als einfach die Befriedigung bei dem Gedanken, verliebt zu sein. Oder vielleicht auch nicht. Er schaffte es nie, seine Gefühle für Kitty richtig einzuordnen. Ihre Romanze fiel in den Sommer 1963, an den er sich als den letzten Sommer voll Hoffnung und guten Mutes vor dem langen Herbst des entropischen Chaos und der philosophischen Verzweiflung erinnerte, der über die westliche Gesellschaft kam. John F. Kennedy führte damals die Zügel, und wenn ihm politisch auch nicht alles zum Besten gelang, verstand er es immerhin, den Eindruck zu erwecken, daß er schon alles richten würde, falls nicht sofort, dann spätestens in seiner zweifellos kommenden zweiten Amtsperiode. Atomversuche über der Erde waren gerade gestoppt worden. Der heiße Draht Washington-Moskau wurde gezogen. Außenminister Rusk verkündete im August, die südvietnamesische Regierung gewinne schnell weiteren Boden. Die Zahl der in Vietnam gefallenen Amerikaner hatte noch nicht die 100 erreicht.
    Selig, damals achtundzwanzig, war gerade von seinem Apartment in Brooklyn Heights in eine kleine Wohnung in den siebziger Straßen West umgezogen und arbeitete als Börsenmakler – ausgerechnet. Eigentlich war das Tom Nyquists Idee. Nach sechs Jahren war Nyquist immer noch sein bester und wahrscheinlich einziger Freund, obwohl die Freundschaft in den vergangenen ein, zwei Jahren doch schon ein wenig nachgelassen hatte: Angesichts von Nyquists beinahe arroganter Selbstsicherheit fühlte sich Selig zunehmend unbehaglich und hielt es für besser, psychologisch und geographisch ein bißchen Distanz zu dem älteren Mann zu gewinnen. Eines Tages hatte Selig sehnsüchtig gesagt, wenn er nur ungefähr 25 000 Dollar zusammenbringen könnte, würde er sich auf eine einsame Insel zurückziehen und ein paar Jahre an einem Buch schreiben, an einem größeren Werk über das gestörte Verhältnis zur Gegenwart, oder so. Er hatte noch nie etwas Ernsthaftes geschrieben und wußte nicht recht, ob es ihm damit wirklich ernst war. Insgeheim hoffte er, Nyquist würde ihm das Geld einfach schenken – Nyquist konnte, wenn er wollte, die 25 000 Dollar an einem einzigen Nachmittag verdienen – und sagen: »Hier, mein Freund, nun geh und sei kreativ.« Doch Nyquist dachte gar nicht daran. Statt dessen sagte er, die einfachste Möglichkeit, ohne Kapital schnell eine Menge Geld zu verdienen, habe man, wenn man als Kundenberater bei einem Börsenmakler arbeite. Die Courtage sei nicht schlecht, genug, um davon zu leben und noch etwas zu sparen, aber das dicke Geld käme, wenn man alle Manöver des erfahrenen Maklers mitmache, die Leerverkäufe, die Käufe von Neuausgaben, die Arbitragegeschäfte. Wenn man nur wirklich interessiert sei, erklärte Nyquist, könne man soviel verdienen, wie man wolle. Und als Selig protestierte, er habe, was die Wall Street angehe, nicht die geringsten Kenntnisse, antwortete Nyquist: »In drei Tagen kann ich dir alles beibringen.«
    Und dann dauerte es nicht mal drei Tage. Selig schlüpfte einfach für einen Schnellkurs in Finanzterminologie in Nyquists Geist. Nyquist hatte sämtliche Begriffe gewissenhaft geordnet: Stamm- und Vorzugsaktien, Baisse- und Haussespekulationen, Rück- und Vorprämien, Obligationen, Wandelschuldverschreibungen, Kapitaleinnahmen, Ausnahmesituationen, begrenzte und unbegrenzte Fonds, Sekundärofferten, Spezialisten, und was sie tun, Freihandmarkt, Dow-Jones-Index, Punktetabellen und alles mögliche. Selig lernte alles auswendig. Diese Direktübertragungen von Nyquist zu ihm waren so lebendig, daß das Auswendiglernen leichtfiel. Dann mußte er sich als Anlernling melden. Jede große Maklerfirma war auf der Suche nach Anfängern – Merrill Lynch, Goodbody, Hayden Stone, Clark Dodge, ein ganzer Haufen. Selig suchte wahllos eine heraus und bewarb sich. Als Vorprüfung mußte er einen Börsentest

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