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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Splittings oder steigende Ertragswerte; aber er entdeckte auch, daß sich die Börse in zwei verschiedenen Richtungen bewegen kann, und verlor einen Großteil seiner Gewinne durch zeitlich ungünstig plazierte Abschlüsse in Brunswick, Beckman Instruments und Martin Marietta. Er mußte einsehen, daß er niemals genug Kapital anhäufen konnte, um in Ruhe seinen Roman zu schreiben. Aber was tat’s? Wozu brauchte die Welt denn einen weiteren Amateurschriftsteller? Er überlegte, was er nun machen sollte. Nach dreimonatiger Tätigkeit als Makler hatte er zwar Geld auf der Bank, aber viel war es nicht, und er selbst langweilte sich fürchterlich.
    Das Glück schickte ihm Kitty über den Weg. Sie erschien eines schwülen Julimorgens um halb zehn. Die Börse war noch nicht geöffnet, die meisten Kunden waren für den Sommer in die Catskills geflüchtet und die einzigen Leute im Büro waren Martinson, der Manager, Nadel, einer der anderen Kundenberater, und Selig. Martinson hockte über seinen Konten, Nadel hing am Telefon und versuchte jemanden zu einem komplizierten Coup in American Photocopy zu überreden, und Selig, der nichts zu tun hatte, träumte von der Möglichkeit, sich in eine schöne Enkelin seiner reichen Ladys zu verlieben. Da öffnete sich die Tür, und eine schöne Enkelin kam herein, wenn auch nicht die Enkelin einer seiner Ladys. Nun ja, vielleicht nicht ausgesprochen schön, aber ganz gewiß attraktiv: ein junges Mädchen Anfang Zwanzig, schlank und wohlproportioniert, ungefähr fünf Fuß drei oder vier, mit weichem, hellbraunem Haar, blau-grünen Augen, feinen Zügen und einer graziösen, zierlichen Figur. Sie wirkte schüchtern, intelligent und irgendwie unschuldig, eine seltsame Mischung aus Wissen und Naivität. Sie trug eine weiße Seidenbluse – auf dem nicht besonders großen Busen lag eine Goldkette – und einen knöchellangen, braunen Rock, der auf erstklassige Beine schließen ließ. Nein, kein schönes junges Mädchen, aber eindeutig hübsch. Ihr Anblick war einfach erfrischend. Mein Gott, dachte Selig verwundert, was will denn die in ihrem Alter in diesem Tempel des Mammon? Sie kommt fünfzig Jahre zu früh. Die Neugier verleitete ihn dazu, ihre Gedanken zu sondieren, während sie etwas zögernd auf ihn zukam. Zunächst suchte er nur oberflächliche Informationen: Name, Alter, Familienstand, Adresse, Telefonnummer, Zweck ihres Besuchs – ja, was noch?
    Das Ergebnis war gleich Null.
    Diese Tatsache schockierte ihn. Es war unglaublich. Einmalig. Suchend in einen Geist einzudringen und feststellen zu müssen, daß er vollkommen unzugänglich war, undurchdringlich, als wäre er hinter einer unüberwindlichen Mauer verborgen. So etwas war ihm noch nie passiert. Er bekam überhaupt keine Aura von ihr. Ebensogut hätte sie eine Schaufensterpuppe sein können, oder ein seelenloser Roboter von einem anderen Stern. Benommen, sprachlos saß er da und suchte den Grund für sein Versagen zu finden. So verblüfft war er über diese totale Reaktionslosigkeit, daß er nicht zuhörte, was sie sagte, und sie bitten mußte, ihren Wunsch zu wiederholen.
    »Ich habe gesagt, daß ich ein Aktienkonto eröffnen möchte. Sind Sie Makler?«
    Verlegen, ungeschickt, plötzlich befangen in jünglingshaften Hemmungen, reichte er ihr die Formulare. Inzwischen waren auch die anderen Makler gekommen, aber zu spät: Nach den Regeln des Hauses war sie seine Klientin. Sie saß neben seinem unordentlichen Schreibtisch und erklärte ihm ihre Investierungswünsche, während er die elegante Form ihrer schmalen Nase studierte, erfolglos gegen ihre verblüffende und rätselhafte geistige Undurchlässigkeit ankämpfte und sich trotz oder vielleicht wegen dieser Unerreichbarkeit bis über beide Ohren in sie verliebte.
    Sie war einundzwanzig, vor einem Jahr vom Radcliffe-College gekommen, stammte aus Long Island und bewohnte mit zwei Freundinnen ein Apartment an der West End Avenue. Unverheiratet – eine mißglückte Liebesaffäre hatte vor kurzem erst mit einer aufgelösten Verlobung geendet, aber das sollte er alles erst später erfahren. (Wie sonderbar es für ihn war, einmal nicht alles auf den ersten Blick zu erfahren, jede gewünschte Information sofort zu erhalten!) Ihr Hauptfach war Mathematik gewesen, und sie arbeitete als Programmiererin, eine Berufsbezeichnung, die ihm, 1963, nicht viel sagte; er war sich nicht sicher, ob sie Computer nun konstruierte, bediente oder reparierte. Vor kurzem hatte sie von einer Tante in

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