Es stirbt in mir
ich ohne die Gabe geboren wäre. Ich kann nicht all meine Anpassungsschwierigkeiten dieser einen außergewöhnlichen Fähigkeit anlasten, nicht wahr? Und es gibt, weiß Gott, genügend Neurotiker, die in ihrem ganzen Leben noch nie einen Gedanken gelesen haben.
Syllogismus:
Manche Telepathen sind nicht neurotisch. Manche Neurotiker sind keine Telepathen. Daher stehen Telepathie und Neurose nicht unbedingt im Zusammenhang.
Corollarium: Man kann absolut normal wirken und trotzdem die Gabe der Telepathie besitzen.
Ich blieb skeptisch. Unter Druck gesetzt, mußte Nyquist zugeben, daß du dich, wenn du die Gabe hättest, mir inzwischen vermutlich durch gewisse unbewußte Verhaltensweisen verraten hättest, die jeder Telepath sofort erkennen würde; ich hatte nichts dergleichen an dir entdeckt. Trotzdem meinte er, daß du ein latenter Telepath sein könntest, daß die Gabe bei dir zwar vorhanden wäre, aber unterentwickelt sei, nicht zur Anwendung komme, tief drinnen in deinem Geist ruhe und dich irgendwie vor meinem Eindringen abschirme. Lediglich eine Hypothese, erklärte er. Aber für mich eine große Versuchung. »Angenommen, sie besitzt diese latente Gabe«, sagte ich. »Glaubst du, daß man sie in ihr wecken kann?«
»Warum nicht?« entgegnete Nyquist.
Ich war bereit, daran zu glauben. Ich sah dich schon zu voller Empfangsfähigkeit erwacht, in der Lage, Übertragungen genauso mühelos und klar wahrzunehmen wie Nyquist und ich. Wie intensiv unsere Liebe dann werden würde! Ganz offen würden wir füreinander sein, ohne jene vielen kleinen Verstellungen und Abwehrmechanismen, die selbst bei den innigst Liebenden eine wahre Vereinigung der Seelen verhindern. Eine begrenzte Form dieser innigen Verbindung hatte ich bereits mit Tom Nyquist erlebt, aber ihn liebte ich natürlich nicht, ja, ich mochte ihn nicht mal, und so war es eine sinnlose Verschwendung, eine grausame Ironie, daß unsere Seelen zu einem so intimen Kontakt fähig waren. Aber du? Wenn ich dich nur wecken könnte, Kitty! Und warum nicht? Ich fragte Nyquist, ob er es für möglich hielte. Mach einen Versuch, dann wirst du’s ja sehen, erwiderte er. Experimentiere. Leg deine ganze Energie in den Versuch, bis zu ihr durchzudringen. Es ist doch einen Versuch wert, nicht wahr? O ja, antwortete ich, natürlich ist es einen Versuch wert.
Du wirktest in so vieler Hinsicht latent, Kitty: eher wie ein potentieller Mensch denn wie ein tatsächlicher. Du wirktest wesentlich jünger als du warst; hätte ich nicht gewußt, daß du das College absolviert hattest, hätte ich dich auf achtzehn oder neunzehn geschätzt. Außer Büchern, die deine Interessengebiete betrafen – Mathematik, Computer, Technologie –, hattest du kaum etwas gelesen, und da sie sich mit meinen Interessengebieten nicht deckten, hattest du in meinen Augen überhaupt nichts gelesen. Auch weitgereist warst du nicht; die Grenzen deiner Welt waren der Atlantik und der Mississippi, und die größte Reise deines Lebens war ein Sommer in Illinois gewesen. Nicht einmal sexuelle Erfahrung, hattest du: drei Männer, in deinen zweiundzwanzig Lebensjahren, und nur einer davon eine ernsthaftere Sache. Also betrachtete ich dich als Rohmaterial, das die geschickte Hand des Bildhauers erwartet. Ich wollte dein Pygmalion sein.
Im September 1963 zogst du zu mir in meine Wohnung. Du verbrachtest so viel Zeit bei mir, daß du einsahst, es war sinnlos, ständig hin- und herzufahren. Und ich fühlte mich sehr verheiratet: Auf der Stange des Duschvorhangs nasse Strümpfe, eine zweite Zahnbürste auf dem Regal, lange Frauenhaare im Waschbecken. Und jede Nacht im Bett neben mir deine Wärme. Mein Bauch an deinem glatten Hinterteil, Yang und Yin. Viele Bücher gab ich dir zu lesen: Gedichte, Romane, Essays. Wie begierig du sie verschlangst! Du last Trilling im Bus, wenn du zur Arbeit fuhrst, Conrad in den stillen Stunden nach dem Abendessen und Yeats eines Sonntagvormittags, während ich die Times holen ging. Aber nichts schien in deinem Gedächtnis haften zu bleiben; du hattest keine Neigung zur Literatur. Ich glaube, es fiel dir schwer Lord Jim und Lucky Jim, Malcolm Lowry und Malcolm Cowley, James Joyce und Joyce Kilmer auseinanderzuhalten. Dein scharfer Verstand, der so mühelos mit COBOL und FORTRAN fertig wurde, konnte die Sprache der Poesie nicht entziffern.
In strategisch klug gewählten Momenten sprach ich andeutungsweise von meinem Interesse für außersinnliche Phänomene.
Ich tat, als wäre das ein
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