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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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habe ein Mädchen kennengelernt, hätte er ihm gern gesagt, und jetzt habe ich ein merkwürdiges Problem. Ich habe ein Mädchen kennengelernt, ich habe ein Mädchen kennengelernt. Eine seltsame Angst hielt ihn zurück. Irgendwie schien ihm Nyquists schweigende Gegenwart am anderen Ende der Leitung bedrohlich. Er wird mich auslachen, dachte Selig. Er lacht mich doch ständig aus, im Stillen, und glaubt, daß ich das nicht bemerke. Aber das ist verrückt! »Tom«, sagte er, »heute ist etwas Merkwürdiges passiert. Ein junges Mädchen kam in unser Büro, sehr hübsch und wirklich sehr attraktiv. Ich habe mich heute abend mit ihr verabredet.«
    »Ich gratuliere.«
    »Augenblick! Die Sache ist die: Ich konnte einfach nicht in ihre Gedanken eindringen. Ich meine, nicht mal eine Aura konnte ich wahrnehmen. Leer, absolut, vollkommen leer. Das ist mir bisher noch nie vorgekommen. Dir vielleicht?«
    »Ich glaube nicht.«
     »Kein Kontakt möglich. Ich begreife das nicht! Wieso hat sie einen so starken Abwehrschirm?«
    »Vielleicht bist du nur heute müde«, meinte Nyquist.
    »Nein. Bestimmt nicht. Bei den anderen klappt es ja. Nur eben bei ihr nicht.«
    »Stört dich das?«
    »Selbstverständlich.«
    »Warum ist das so selbstverständlich?«
    Nach Seligs Meinung lag das auf der Hand. Er wußte, daß Nyquist ihn reizen wollte: Seine Stimme war ruhig, ausdruckslos, neutral. Es war ein Spiel für ihn, ein Zeitvertreib, wie immer. Er wünschte jetzt, nicht angerufen zu haben. Über den Ticker schien etwas Wichtiges hereinzukommen, und das andere Telefon leuchtete auf. Nadel, der den Hörer abnahm, warf ihm einen wütenden Blick zu: Los doch, Mann, die Arbeit wartet! Brüsk antwortete Selig: »Nun ja, ich interessiere mich eben für sie. Und es stört mich, daß ich keine Möglichkeit habe, ihr wirkliches Wesen zu erkennen.«
    »Du meinst, es ärgert dich, daß du bei ihr nicht spionieren kannst«, sagte Nyquist.
    »Diese Formulierung gefällt mir nicht.«
    »Wessen Formulierung ist es denn? Meine bestimmt nicht. Du bist es doch, der das, was wir tun, als Spionieren betrachtet, oder nicht? Du hast doch Gewissensbisse, weil du bei anderen Leuten spionierst, habe ich recht? Und ärgerst dich trotzdem, wenn du nicht spionieren kannst?«
    »Mag schon sein«, mußte Selig zugeben.
    »Bei diesem Mädchen siehst du dich gezwungen, auf die alte, unsichere Ratetechnik im Umgang mit anderen Menschen zurückzugreifen, auf die alle anderen immer noch angewiesen sind, und das paßt dir nicht. Stimmt’s?«
    »Wie du das sagst, klingt es schrecklich.«
    »Was soll ich denn sonst sagen?«
    »Überhaupt nichts. Ich wollte dir lediglich erzählen, daß mir die Gedanken dieses Mädchens verschlossen sind, daß ich so was noch nie erlebt habe und daß ich wissen möchte, ob du eine Ahnung hast, warum das so ist.«
    »Nein«, antwortete Nyquist. »Jedenfalls nicht jetzt und hier.«
    »Na schön, dann werde ich…«
     Aber Nyquist war noch nicht fertig. »Dir ist hoffentlich klar, daß ich nicht entscheiden kann, ob sie für Telepathie im allgemeinen unzugänglich ist – oder nur für dich, David.« Diese Möglichkeit war Selig Sekunden zuvor eingefallen. Er fand sie überaus beunruhigend. Zungengewandt fuhr Nyquist fort: »Ich würde vorschlagen, daß du sie einmal mit hierherbringst, damit ich sie mir ansehen kann. Vielleicht kann ich dabei etwas Nützliches über sie erfahren.«
    »Ja, das mache ich«, sagte Selig ohne Begeisterung. Er wußte zwar, daß ein Kennenlernen der beiden notwendig und unvermeidlich war, der Gedanke jedoch, Kitty Nyquists geiler Neugier auszusetzen, behagte ihm ganz und gar nicht. Er begriff nicht ganz, warum das notwendig sein sollte. »Irgendwann in der nächsten Zeit«, versprach er. »Hör mal, unsere Telefone spielen verrückt. Ich muß arbeiten. Bis später, Tom.«
23
    David Selig
Seligkunde 101, Prof. Selig
10. November 1976
    Entropie als Faktor des täglichen Lebens
    In der Physik wird Entropie definiert als mathematischer Ausdruck für den Grad, in dem die Energie eines thermodynamischen Systems derart verteilt ist, daß sie zur Verwandlung in Kraft nicht mehr verwendbar ist. Im allgemeineren metaphorischen Sinne kann man Entropie als die irreversible Tendenz eines Systems, u.a. auch des Universums, zu wachsender Unordnung und Trägheit betrachten. Das heißt, die Dinge neigen dazu, sich immer weiter zu verschlechtern, bis sie am Ende so schlecht sind, daß wir nicht einmal mehr die Möglichkeit haben, zu

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