Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
dem machtvollen Schritt des gewaltigen Löwen, der sie verfolgte, nicht viel entgegensetzen. Binnen Sekunden hatte er sie eingeholt. Ein lässiger Prankenhieb riss Bauer Bruder von den Füßen und hielt ihn am Boden. Gretel schaute sich um und sah den alten Mann zappeln wie eine mit der Nadel aufgespießte Fliege. Er trat mit den Beinen um sich, hatte den Mund in stummem Entsetzen weit aufgerissen und sammelte Luft für seine zweifellos letzte Lautäußerung auf dieser Welt.
Gretel hatte den Zaun inzwischen beinahe erreicht. Nur noch eine weitere Kraftanstrengung, und sie wäre dort. Und da der Löwe sich anderweitig vergnügte, konnte sie hinüberklettern und wäre binnen weniger Augenblicke in Sicherheit.
Dann schrie Bauer Bruder. Aber es war nicht das schrille Heulen des Schmerzes, das Gretel erwartet hatte. Stattdessen schaffte er es irgendwie, das eine Wort hervorzubringen, das bei Gretel Wirkung erzielen konnte.
»Mami!«, brüllte er in die stille Nacht.
Nun kannte Gretel sich recht gut, und hätte man sie gefragt,so hätte sie voller Überzeugung sagen können, sie würde alles und jeden opfern, um ihren eigenen speckschwartigen Hals zu retten, sollten die Umstände dies gebieten. Nur hatte sie dabei nicht die offenkundig ungelösten Probleme bedacht, die sie mit der Vorstellung von einer Mutter verknüpfte. Für sie war jede Mutter problematisch. Ihre eigene, weil sie bei ihrer Geburt gestorben war. Ihre Stiefmutter aus offensichtlichen und gut dokumentierten Gründen. Sie selbst, weil sie keine war. Vermutlich gab es noch weitere Varianten, aber diese drei reichten voll und ganz, dass Gretel innehielt. Da machte es nichts, dass der stinkende Bauer alt genug war, ihr eigener Großvater zu sein, oder dass sie nur selten, wenn überhaupt, unter mütterlichen Instinkten litt. Ein menschliches Wesen (mehr oder weniger) war in höchster Not und rief nach seiner Mami. Etwas in Gretel zwang sie zu handeln.
Mit einem wilden Schrei stürmte sie auf den monströsen Löwen zu. Für eine Sekunde hatte sie den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Offenbar war das Tier es nicht gewohnt, von großen, schmutzigen Frauen mit mörderischem Blick attackiert zu werden. Gretel riss sich einen Schuh vom Fuß, hielt ihn hoch in die Luft und gab sich dabei so bedrohlich sie nur konnte. Der Löwe, provoziert von diesem Anblick, hörte auf, Bauer Bruder zu zerfleischen, und stürzte sich auf Gretel. In einem Durcheinander aus Fell und feiner, wollener Schneiderkunst purzelten sie in einer unangemessen kuscheligen Umarmung zu Boden. Als sie zur Ruhe kamen, lag Gretel unter der Kreatur. Sie rammte dem Löwen den Schuh zwischen die Kiefer und hebelte sie auf, sodass der Löwe weder beißen noch das Maul wieder schließen konnte.
Mit zornigem Gebrüll schlug er nach Gretel. Für einen Moment glaubte sie, er würde ihr den Kopf von den Schultern reißen, doch wie das Glück es wollte, erwischten die Pranken nur ihren Zylinder und fegten ihn ihr vom Kopf. Gretel rollte sich herum, sprang auf, schüttelte den anderen Schuh ab und flüchtete. Hinter ihr wütete der Löwe, sprang wild umher und versuchte, seine Pranke vom Hut zu befreien und den Schuh auszuspucken.
Der Lärm hatte den Rest des Rudels angelockt. Gretel fühlte mehr als sie sah, dass die Löwen sich von allen Seiten näherten.
Vor ihr hatte der Bauer gerade den Zaun erreicht.
»Bruder!«, rief Gretel. »Hilf mir!«
Bruder ignorierte ihre Rufe und fing an zu klettern.
Gretel war nie eine gute Läuferin gewesen. Gehen war anstrengend genug, ganz gleich, um welche Distanz es sich handelte, und sie konnte das verschwitzte Aussehen und das rot angelaufene Gesicht, das ihr solch eine Anstrengung bereitete, nicht ausstehen. In ihrem Leben hatte sie stets Möglichkeiten gefunden, derart würdelosen Aktivitäten aus dem Weg zu gehen, und sie hatte nie das Bedürfnis verspürt, irgendein athletisches Talent zu demonstrieren. Nun aber musste sie es, wollte sie je die Sonne wieder aufgehen sehen.
Doch der Abstand zwischen ihr und dem Zaun schien wie in einem Traum einfach nicht abzunehmen, wie sehr sie sich auch anstrengte, wohingegen der Abstand zwischen ihr und dem nächsten Löwen mit jedem Sprung der Kreatur aus dem fernen Afrika kleiner wurde. Gretel wollte nicht mit ihren letzten Atemzügen einen stinkenden Bauern verfluchen müssen, also versuchte sie, sich auf einen angemessenen Eintritt ins Jenseits vorzubereiten. Gerade als sie überzeugt war, dass für Gretel
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