Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
eine Blumenkundschaftertour durchdie Berge, stand dies doch ziemlich weit oben auf der Liste der Dinge, die sie zu Lebzeiten nicht unbedingt tun musste, um glücklich zu sterben.
Gretel schnaufte eine zweite Treppenflucht hinauf, bog in die schmale Diele zu ihrem Zimmer ein und war mehr als nur ein bisschen überrascht, dort ein schlafendes Walross auf dem Boden vorzufinden, dessen Kopf unter einer Blumenbank mit langen, dünnen Beinen klemmte. Eine nähere Betrachtung ergab, dass es sich um Hänsel handelte.
»Hänsel! Was machst du denn hier?«
Er regte sich stöhnend.
»Steh auf, um Himmels willen. Ich habe mein hart verdientes Geld nicht für dein Zimmer hingeblättert, nur damit du dann auf dem Flur pennst.« Sie hielt den wackelnden Blumentopf fest, als Hänsel darum kämpfte, sich zu befreien.
»Flur?« Er kratzte sich am Kopf und stemmte sich auf die Beine. Zwischen seinen Zähnen klemmte immer noch ein angenagter Zigarrenstummel. »So was! Hätte geschworen, ich wäre ins Bett gegangen.«
»Wir sollten froh sein, dass du dich nicht gemüßigt gesehen hast, dich erst auszuziehen«, sagte Gretel und dirigierte ihn zur Tür.
Hänsel fischte den Schlüssel aus der Tasche und wedelte damit vor dem Schloss herum.
»Gib ihn mir.« Gretel nahm ihm den Schlüssel ab, öffnete die Tür und schob ihren schwankenden Bruder in das Zimmer. »So viel zum Thema ›Pause von den Wirtshausbesuchen‹. Du hättest genauso gut zu Hause bleiben und dich dort besaufen können. Wirklich, Hänsel, du bist schlimm genug, auch mich in die Klauen des Alkohols zu treiben.«
»Das würdest du nicht sagen, wenn du wüsstest, was ich herausgefunden habe«, protestierte er, und ein Schluckauf verlieh jedem seiner Worte eine besondere Bedeutung.
»Na los, überrasch mich.«
»Ich habe mit einem Mann getrunken, der mit einem Mädchen getanzt hat, das eine Frau kannte, die eine Tante hatte, die mit einer alten Dame zusammengelebt hat, die ein Sommerhäuschen auf dem Berg über der Stadt besaß.«
»Faszinierend. Und wie viele Krüge musstest du ausgeben, um dieses ergreifende Stück örtlichen Larifaris aufzudecken?«
»Das ist weder Lari noch Fari, das sind Tatsachen!« Hänsel kämpfte mit seiner Jacke, aber seine Arme wollten nicht, wie er wollte, und so kam es, dass er hilflos zappelte, statt sich von dem Kleidungsstück zu befreien, so wie jemand, der eine Zwangsjacke trug. »Das wolltest du doch, oder? Darum bist du hier. Wegen Tatsachen. Richtig?«
»Wegen sachdienlicher Tatsachen in dem Fall, den ich zu lösen versuche, ja. Aber nicht wegen Informationen über Leute, die für mich und meine Ermittlungen ohne jede Bedeutung sind.«
»Aber das sind sie. Von Bedeutung«, beharrte er.
»Davon wirst du mich erst überzeugen müssen.«
Hänsel gab sich noch mehr Mühe, sich aus seiner Tweedfessel zu befreien, was jedoch nur dazu führte, dass er umkippte und mit dem Gesicht voran auf dem Bett landete. Gretel wartete. Nach einer Weile fing Hänsel an zu schnarchen, woraufhin sie ihrem Ärger nachgab und brüllte: »Hänsel!«
»Was? Was?« Erschrocken kam er zu sich und sammelte seine verbliebenen Sinne. »Tatsachen«, wiederholte er. »Ja, er wohnt oben über den Jagdhütten. Weit, weit, weit oben. Da gibt es einen Bach. Und einen Wanderpfad. Und eine Brücke. Da wirst du ihn finden.«
»Wen finden?«
Hänsel kippte erneut nach vorn und verlor gleich wieder das Bewusstsein. Gretel schüttelte ihn grob.
»Hänsel?«
Nun war er endgültig nicht mehr ansprechbar. Doch während seine Augen fest geschlossen waren, ließ sein Mund endlich die zerkaute Zigarre los und sonderte ein einzelnes, undeutliches Wort ab: »Troll.«
*
Während Gretel mit den anderen Blumenkundlern den Berg hinaufstapfte, tröstete sie sich damit, dass zumindest das Wetter angenehm war. Was sich von dem steilen Hang, dem unebenen Pfad und dem ermüdenden Geplapper von Peterson et al. nicht sagen ließ. Da wäre einmal der Bergführer, der offenkundig zu viel Kaffee getrunken hatte, ehe sie losgezogen waren, und der nun unentwegt über dieses Edelweiß und jenes Veilchen schwatzte, bis Gretel ihn am liebsten von der nächsten Klippe gestoßen hätte. Von denen es so einige gab. In der dünnen Bergluft musste sie um Sauerstoff ringen, und wie sehr sie sich auch antrieb, die Lücke zwischen ihr und dem letzten Wanderer wurde immer größer. Irgendwann rief Herr Peterson: »Fräulein? Bist du noch bei uns?«
Gretel war in Versuchung, nein zu sagen,
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