Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
einige von ihnen waren bereits auf dem Weg zum Schatz des Riesen. Gretel verdoppelte ihre Anstrengungen. Endlich hatte sie das Fenster erreicht. Das Glas war dick, der Rahmen massiv. Zum Glück war es nicht verriegelt. Offenbar hielt der Riese es für unwahrscheinlich, dass jemand versuchen könnte, durch das Fenster einzudringen.
Als es Gretel endlich gelungen war, ihren massigen Körper durch die schmale Öffnung zu quetschen, wurde ihr auch klar, warum der Riese sich so sicher sein konnte, dass niemand durch dieses Fenster kommen würde: Der verschlungene Gang hattenoch weiter nach oben geführt, sodass ein Sturz aus diesem Fenster senkrecht, lang und ziemlich beängstigend wäre. Es gab aber einen schmalen Sims, der mit leichtem Gefälle an der Außenwand entlangführte. Wo er endete, konnte Gretel nicht erkennen, da er um den Berg herum in Richtung Eingangstor führte und damit zu einem guten Teil außer Sichtweite war.
Taumelnd richtete sie sich so auf, dass ihre Fersen – und damit der größere Teil ihres Gewichts – dem Berg zugewandt waren. Das half ihr zwar, das Gleichgewicht zu halten, bedeutete aber auch, dass sie die ganze Zeit den Schrecken eines möglichen Sturzes vor Augen hatte, während sie sich Zoll um Zoll seitwärtsschob. Und es half auch nichts, in die Ferne zu schauen, denn alles, was sie dort zu sehen bekam, waren weitere schwindelerregende Berge und steil abfallende Pfade. Schließlich schloss Gretel die Augen. Als ahnte das Tier eine Gefahr, fing jedoch Seppl sogleich an, in dem Sack herumzuzappeln.
»Das ist kein guter Zeitpunkt für Gegenwehr«, verriet ihm Gretel. »Bleib ruhig, rühr dich nicht.« Die Handflächen flach an den kalten Stein hinter sich gepresst, schob sie sich langsam und zittrig den Sims entlang. Als sie sich einer Biegung näherte, wurden die Kampfgeräusche vom Eingangstor lauter. Wie es schien, verteidigte der Riese sein Heim immer noch energisch.
Obwohl Gretel nur quälend langsam vorankam, hatte sie sich doch endlich weit genug vorgetastet, um einen klaren Blick auf das Geschehen unter ihr zu werfen, nun, da sie es wieder wagte, die Augen zu öffnen. Was für ein Chaos, was für ein Getümmel das war. Die Überreste der explodierten Türflügel lagen überall herum, als hätte der Riese sich die Zeit mit einer Runde Mikado vertreiben wollen. Gretel zählte drei regloseKörper in dem Trümmerfeld. Eine Schar unangenehm aussehender Männer schoss mit Musketen oder lud die Waffen nach. Der Riese ragte bedrohlich auf der Schwelle empor, umgeben von dichten Rauchwolken. Er brüllte, als er nach seinen Angreifern schlug. Der Fes war verrutscht, die feine Jacke hing in Fetzen, und einem der gewaltigen Füße fehlte der Pantoffel. Er holte aus und fegte drei Männer mit einer einzigen Armbewegung von den Beinen. Gretel sah, wie zwei Kerle aus Inges kleiner Armee sich unter seinen Armen hindurchduckten und in die Höhle schlüpften.
Da alle anderen voll und ganz beschäftigt zu sein schienen, schaute Gretel sich nach einer Möglichkeit um, von dem Sims herunterzukommen. Dieser führte zwar weiter abwärts zu dem Tor, doch war es viel zu gefährlich, sich dem Kampfgeschehen so sehr zu nähern. Darüber hinaus herrschte jedoch ein besorgniserregender Mangel an Ausweichmöglichkeiten. Die einzigen Vorsprünge in der glatten Felswand bildeten die kunstvollen Wasserspeier, und die lagen zu weit auseinander, um Gretel einen sicheren Abstieg zu gestatten.
Eine Bewegung am Rand ihres Sichtfeldes erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine Gestalt schlich durchs Gebüsch und beobachtete die unheilvollen Ereignisse. Hänsel. Würde er die Stute nehmen und den Wagen unter dem am besten erreichbaren Wasserspeier abstellen, wäre es Gretel vielleicht möglich zu springen, ohne sich ernsthaft zu verletzen.
Gretel winkte, so gut sie konnte, solange ihre größte Sorge dem eigenen Gleichgewicht gelten musste. Hänsel jedoch war viel zu sehr in seine Beobachtungen vertieft, um ihre klägliche Zappelei zu bemerken, sodass sie sich schließlich gezwungen sah zu brüllen.
»Hänsel! Hänsel, hier oben!«
Trotz des ohrenbetäubenden Lärms, der donnernden Stimme des Riesen und den Schreien der Angreifer drang Gretels Stimme in das Bewusstsein ihres Bruders. Suchend blickte er sich um und sah dabei hoffnungslos dusselig aus. Doch schließlich entdeckte er sie, und in seinem Gesicht spiegelten sich nacheinander Verwirrung, Erstaunen und Sorge.
»Hol den Wagen!«, wies Gretel ihn an.
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