Es war einmal eine Familie
Wort, in dem ganzen Geschimpfe hörte ich nur immer wieder den Namen Pschigurski heraus.
Meine Mutter sah sich Ittas Ausbruch gelassen an.
Dann, als Itta sich langsam beruhigte, holte meine Mutter aus der Küchentischschublade einen kleinen Kalender und blätterte darin. »Am ersten Januar ist die Jahrzeit von Pepa, am zweiten der Gedenktag von Kube, am dritten dieses Monats der von Selig, am vierten gedenke ich meines Vaters, am fünften ist der Gedenktag von Golda, danach kommt der meiner Mutter, nach ihr Nina … Sogar am Schabbat«, betonte sie,»habe ich keine Ruhe.« Sie stand da und zählte alle Namen auf, die in dem kleinen Kalender standen.
Als sie fertig war, legte sie den Kalender zurück in die Schublade.
»Du siehst«, sagte sie zu Itta, »ich habe keinen Tag frei für noch eine Jahrzeit, und ich habe keinen Platz für ein weiteres Seelenlicht.« Mit zitternder Hand deutete sie hinüber zur Kommode, wo, wie immer, Seelenlichter aufgereiht waren.
Itta schwieg, und meine Mutter fing an, die getrocknete Wäsche zusammenzulegen, die sie auf dem Bett aufgestapelt hatte.
Damals fand auch ich einen Bräutigam für meine Mutter.
Im Autobus Nr. 11, auf einem großen Kissen vor dem schwarzen Lenkrad, saß Berl, der Busfahrer.
Berl trug eine große Brille, er hatte gütige Augen und ein liebevolles Lächeln. An Geburtstagen, an Feiertagen oder in den Ferien stimmten die Eltern zu, daß wir mit Berl, dem Fahrer, einen Ausflug machen durften – von der Haltestelle in unserem Viertel bis zur Endhaltestelle und zurück.
»Ohne aus dem Bus zu steigen!« warnte Dorka Berl vor jeder der Fahrten, denn sie hatte Angst, wir könnten in der großen Stadt verlorengehen.
Begeistert setzten wir uns auf die Holzbänke, und damit wir von dem, was hinter den Fenstern an uns vorbeiflog, ja nichts verpaßten, wischten wir mit den Händen den Staub von den Scheiben, drückten die Nasen an das kalte Glas und betrachteten die Welt da draußen. Von Berls Busfenster aus lernten wir die Straßen von Tel Aviv kennen.
Nachdem alle Fahrgäste an der Endhaltestelle vor dem Rathaus ausgestiegen waren, schloß Berl die Türen und ließ die Kinder unseres Viertels allein in dem leeren Bus.
»Nur ein paar Minuten«, entschuldigte er sich, »ich will nur eine Tasse Kaffee trinken.«
In dem geparkten Autobus spielten wir zwischen den Bänken und auf den Gängen Fangen und Verstecken, wir schnitten den Vorübergehenden Grimassen und prügelten uns um das Vorrecht, auf dem Fahrersitz sitzen zu dürfen.
Bei einer dieser Fahrten schaute ich nicht aus dem Fenster, ich tobte an der Endhaltestelle nicht herum und saß auch nicht auf dem Fahrersitz. Ich wartete gespannt darauf, wieder ins Viertel zu kommen. Nachdem alle ausgestiegen wären, wollte ich zu Berl gehen und ihm vorschlagen, meine Mutter zu heiraten.
»Das lohnt sich«, murmelte ich probeweise, »denn wenn ihr heiratet, ist meine Mutter keine Witwe mehr, und ich bin keine Waise.«
Aber als wir die Haltestelle in unserem Viertel erreichten, stieg ich als erste aus dem Autobus.
Und dann schwor ich mir, bei der nächsten Fahrt bestimmt mit ihm zu sprechen.
»Wo ist Berl?« fragte ich beim nächsten Mal überrascht.
Der neue Fahrer zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich«, sagte er und lächelte. »Vielleicht ist er gestorben.«
Erschrocken rannte ich zu Tante Itta von Theresienstadt.
»Berl ist tot!« verkündete ich ihr, als sie die Tür öffnete.
»Berl ist nicht tot«, beruhigte mich Itta.
»Berl ist tot«, beharrte ich weinend.
Itta nahm mich zärtlich in den Arm und tröstete mich mit klarer Hühnerbrühe und Schokoladenkuchen und bunten Bonbons.
Berl war nicht tot. Itta erzählte mir Jahre später seine Geschichte. Berl, der Busfahrer, wohnte am Rand des Viertels, er hatte zwei Söhne, der ältere hieß Motti Mendel und der jüngere Josef Rafael, und seine Frau Susa war in eine Anstalteingeliefert worden. Susa, nebbich, glaubte einfach nicht, daß jener Krieg vorbei war.
Als sich ihr Zustand verschlechterte, hörte Berl auf, als Busfahrer zu arbeiten, und wurde Taxifahrer.
Jeden Vormittag besuchte er seine kranke Frau, mittags und abends kümmerte er sich um die kleinen Kinder, und nachts fuhr er Taxi, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen.
Wie es ihre Art war, trank Itta während des Erzählens etwas Wasser und beendete die Geschichte mit einem Seufzer. »Was tut man nicht alles für seine Familie.«
Im Jom-Kippur-Krieg wurden Berl und seine
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