Es war einmal eine Familie
die Eltern drängte, die Bilder zu kaufen, kam am Shoah-Gedenktag mit seiner schweren, schwarzen Kamera zur Schule. Während der ganzen Zeremonie, sogar wenn die Sirene ertönte, lief er auf dem Schulhof herum und fotografierte.
»Heute ist es umsonst«, versprach er den Eltern, »an schlimmen Erinnerungen will ich nichts verdienen.«
Gegen Ende der Zeremonie nahm Ascher wieder das Mikrophon. »Mein Gott, mein Gott, es möge nie enden …«, und alle sangen zusammen mit Ascher – manche laut, manche leise und manche weinend, bis sich der Schulhof wieder leerte.
»Hiermit teile ich Ihnen mit, daß meine Tochter am Shoah-Gedenktag nicht zur Schule kommen wird«, schrieb meine Mutter jedes Jahr an meine Lehrerin.
»Ausgerechnet du sollst an diesem Tag nicht zur Schule kommen?« Pola, die Lehrerin, schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen über ihre Brille hinweg an.
Und ich wußte, daß sie auch diesmal in der Pause zu mir kommen würde. »Das ist in Ordnung«, würde sie mir zuflüstern, »an diesem Tag kann deine Mutter nicht allein sein.«
»Das ist mein Ruhetag«, verkündete meine Mutter an jedem Shoah-Gedenktag und erklärte: »Heute muß ich nicht weinen.«
Wenn die Sirene erklang, verschwand sie in der Küche. »Diese Sirene gilt nicht für mich«, sagte sie zu sich selbst. »Heute muß ich nicht weinen, heute weinen alle anderen.« Sie wischte sich mit einem groben Küchenhandtuch den Schweiß vom Gesicht.
Die Sirene heulte, und ich stand am Fenster meines Zimmers. Ich schaute hinaus, um zu sehen, wie der Verkehr zum Stillstand kam, und prüfte sorgfältig, ob wirklich keiner da draußen die Stille störte.
Wenn die Sirene verklang, blieb ich noch immer am Fenster stehen. Ich wartete auf den Moment, der mir am Shoah-Gedenktag der liebste war.
Jedes Jahr, nach der Sirene, kam Doktor Wollmann aus seiner Praxis. Ein großgewachsener Mann mit vollen, weißen Haaren, ein Stethoskop um den Hals, eine Ledertasche voller Medikamente in der Hand und einer Pfeife im Mund, aus der weiße Rauchringe aufstiegen.
Von meinem Fenster aus betrachtete ich ihn, den Arzt in Weiß, wie er durch die menschenleere Straße ging. Im Hintergrund waren Flötenklänge und Aschers engelhafte Stimme zu hören. »Es brent, brider, es brent, oj, undser orem schtetl brent … « Doktor Wollmann ging von Haus zu Haus, um Itta von Theresienstadt Erste Hilfe zu leisten, Efraim, Sarka, Zila und noch anderen Qualen leidenden Nachbarn, die sich nach der Zeremonie in ihren Häusern verkrochen hatten.
Und ich wußte, daß Doktor Wollmann bald auch bei uns auftauchen würde.
Ich sah, wie er näher kam, und stellte mir vor, der Messias komme zu uns. Wenn ich seine schweren Schritte auf der Treppe hörte, stellte ich mich aufgeregt mitten ins Zimmer, bereit für den Moment der Gnade. Und dann stand Doktor Wollmann in der Tür und fragte mit besorgtem Blick: »Wie geht es dir, mein liebes Mädchen?«
Er schaute mir in die Augen, um sich zu vergewissern, daß es mir gutging, und hörte sich aufmerksam an, was ich sagte. Während er sich noch mit mir unterhielt, wußte ich, daß sich meine Mutter in der Küche schon beruhigt hatte. Dort, auf dem Herd, kochte dampfende Suppe in einem riesigen Topf.
Nachdem er mich begutachtet hatte, ging Doktor Wollmann sofort zu meiner Mutter in die Küche.
»Warum soll das Mädchen nicht wie alle anderen zur Zeremonie gehen?« erkundigte er sich jedesmal behutsam.
»Sie hat genügend Gedenktage«, hörte ich meine Mutter entschieden antworten. Die kleine Küche füllte sich mit dem Rauch der Pfeife und dem Dampf der Suppe.
Wenn Helena dann das Fenster öffnete, um den Rauch und den Dampf zu vertreiben, sagte sie: »Sie hat keinen Onkel, sie hat keine Tante, sie hat weder Großmutter noch Großvater, sie hat überhaupt keine Familie, deshalb hat sie an jedem Schabbat, an jedem Geburtstag, an jedem Feiertag und an jedem normalen Wochentag einen Gedenktag. Warum sollte sie dann nicht wenigstens an einem Tag im Jahr frei haben?«
Der Arzt schwieg.
Sie schöpfte ihm eine große Portion Suppe in einen Teller. Er aß nur wenig, dann legte er ihr liebevoll den Arm um die Schulter und fragte: »Gibt es etwas, was ich für Sie tun kann?«
Sie rührte wieder in der Suppe. »Ja«, sagte sie, ohne zu zögern, »legen auch Sie eine Blume zu dem Kranz, den Joschi in seinem Garten aufgehäuft hat. Sie wissen doch, nur dort, nuran einem Tag im Jahr, gibt es einen Friedhof für sechs Millionen Menschen.«
Vom
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