Es war einmal eine Familie
Fenster aus sah ich, wie Doktor Wollmann eine Blume im Garten pflückte, zu Joschis Haus hinüberging und sich mit dem Ärmel seines weißen Kittels über das Gesicht wischte, damit niemand die Tränen sah, die ihm aus den Augen liefen.
Ende des fünften Tages der Schiwa.
Der sechste Tag
In den Nachmittagsstunden
Ich kehrte in die Wohnung meiner Mutter zurück.
Ein Junge von sieben oder acht hüpfte die Straße entlang, in kurzen Hosen, Sandalen und einem T-Shirt.
»Judale Poliwoda!« Mein Herz stockte.
Dann tauchte auch Chajale am Ende der Straße auf.
»Bevor alles verschwindet, will ich Adam noch einmal das Viertel zeigen, nach dem Rundgang kommen wir zu dir«, hatte sie mir vor drei Tagen angekündigt, bevor wir uns voneinander verabschiedeten, und hatte mit einem Lächeln hinzugefügt: »Mach mir dann eine Tasse Kaffee, und gib mir eine Beruhigungspille.« Jetzt sah ich, wie sie ihren Sohn an die Hand nahm und wie die beiden Hand in Hand die Straße entlanggingen.
Ich betrachtete sie.
Mutter und Sohn, eine kleine Familie.
»Ein Mensch, der keine Frau hat, ist kein Mensch, denn es heißt, als Mann und Frau erschuf er sie und nannte sie Mensch.« Das hatte uns Pola beigebracht, die kinderlose Lehrerin, und hämmerte uns ein: »Vor allem ist es eure Pflicht, zu heiraten, Familien zu gründen und Kinder auf die Welt zu bringen, erst dann seid ihr Menschen.«
»Und warum haben Sie keine Familie?« fragte Dovele neugierig.
»Auch mein Tag wird kommen«, antwortete Pola und fügte hinzu: »Vorläufig bin ich die letzte auf Gottes Liste.«
Wenn Pola wüßte, dachte ich, daß Chajale, ihre Schülerin, keinen Mann hat und ihr Sohn keinen Vater, hätte sie sich sofort daran gemacht, einen Bräutigam für sie zu suchen.
»Eine alleinerziehende Mutter ist keine Familie«, hätte sie gesagt, »sondern ein Fluch.«
»Bei Pola ist es wie eine Krankheit«, hatte Itta einmal gesagt und erzählt, seit dem Krieg finde Pola keine Ruhe, wenn sie einen Witwer, eine Witwe oder ein Waisenkind treffe.
»Wie viele Zimmer hat eure Wohnung? Wie viele Geschwister hast du? Was machen deine Eltern?«
Das fragte mich Pola, die Lehrerin, zu Beginn der vierten Klasse, vor allen anderen.
»Wir haben zwei Zimmer, ich habe keine Geschwister, meine Mutter arbeitet als Krankenschwester in der Krankenkassenambulanz, und mein Vater ist weit weggefahren«, antwortete ich.
Sie schaute mich scharf an und fragte: »Wird er zurückkommen?«
Und einmal, als ich von der Schule nach Hause kam, hörte ich drinnen die Stimme von Pola, der Lehrerin.
»Das ist genau der Richtige für Sie«, sagte sie aufgeregt zu meiner Mutter. »Ein gebildeter Mann, klug und gutherzig, a mentsch «, und dann fügte sie hinzu: »Herr Pschigurski ist wirklich wie für Sie geschaffen.«
Ich blieb an der Wohnungstür stehen.
Ich sah Herrn Pschigurski, meinen Stiefvater, im verblichenen Pyjama herumlaufen, mit mageren, zitternden Händen, und »oj wej, oj wej« rufen, und ich stellte mir vor, wie ich mein ganzes weiteres Leben in einem dämmrigen Haus zwischen vergilbten und verschimmelten Büchern würde verbringen müssen.
»Ihre einzige Tochter«, hörte ich Polas drängende Stimme, »würde eine Schwester bekommen. Pschigurskis Chemda ist ein sehr geselliges und nettes Mädchen.«
Ich wollte ins Zimmer stürzen und schreien, daßChemda Pschigurski ein seltsames Mädchen sei, daß ihre Mutter verrückt gewesen sei und sich umgebracht hätte und daß die anderen Kinder Chemda, weil sie die Größte war, verspotteten, sie würde nachts ihre Mutter in den Wolken besuchen.
Aber ich blieb wie angewurzelt an der Tür stehen und betete, daß Herr Pschigurski nicht der Bräutigam meiner Mutter würde und Chemda nie meine Schwester.
»Danke«, hörte ich meine Mutter ruhig antworten, »Herr Pschigurski ist wirklich eine gute Partie, aber ich habe eine Bedingung –«
»Alles, was Sie wollen«, fiel ihr Pola aufgeregt ins Wort.
»Der Bräutigam muß sich eidesstattlich verpflichten, noch vor der Hochzeit, daß er erst nach mir stirbt«, erklärte Helena in sachlichem Ton.
»Was?« stieß Pola hervor, mit erstickter Stimme. Sofort danach verließ sie eilig das Haus. Als sie an mir vorbeilief, zeigten mir ihre weit aufgerissenen Augen, daß irgend etwas nicht in Ordnung war.
Kurze Zeit später stürmte Tante Itta von Theresienstadt in unsere Küche.
Lange schrie sie auf jiddisch, stampfte mit dem Fuß auf und versprühte Spucke wie Funken.
Ich verstand kein
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