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Es wird Dich rufen (German Edition)

Es wird Dich rufen (German Edition)

Titel: Es wird Dich rufen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Cross
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sehen«, widersprach Jean allerdings. »Die Kirche an sich ist nur eine Institution, in der verschiedene Kräfte agieren. Es sind die Menschen mit ihren Strömungen und Philosophien, die sie über die Jahrhunderte geprägt haben. Die Konservativen und die Reformer. Beide müssen bis heute versuchen, die Waage zu halten, um das große Schiff der Amtskirche zu steuern. Das muss mit sehr viel Bedacht getan werden. Mal ist das gut, mal weniger gut gelungen.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Wir leben hier in einem Land, das vor vielen Jahrhunderten schon den Katharern gehörte. Sie waren für die Kirche in Rom zu jener Zeit eine große Gefahr, weil sie eine ganz andere Lehre verbreiteten. Ich möchte sagen, sie waren dem Urchristentum näher, als Rom es war. Sie lehnten alles Weltliche ab, also auch das Materielle. Die Vertreter Roms dagegen schwammen im Reichtum, während das Volk hungerte. Die Katharer stammten übrigens von den Bogomilen ab, einer Bewegung, die direkt auf die Apostel zurückgeht. Bei der keltischen Kirche ist das ganz ähnlich!«
    »Das würde bedeuten, dass ihre Lehren direkt von Christus kommen?«
    »Vielleicht kann man sagen, dass diese Art der Lehre weniger verwässert war, als das, was beim Konzil von Nicäa beschlossen wurde. Für die Katharer war Jesus kein Sohn Gottes, sondern ein besonderer Mensch, der den Weg zu Gott wies. Die Katharer glaubten: Nur durch die unabdingbare Hingabe zu Jesus und seinen Lehren, in deren Zentrum die Liebe zum Nächsten, die Toleranz und die Hilfsbereitschaft stehen, ist es den Menschen möglich, den Teufel zu überwinden. Spüren Sie die Parallelen zu den Gralslegenden?«
    »Ich fürchte nicht«, schüttelte Mike den Kopf. »Sie erwähnten früher, dass die Katharer als die Hüter des Grals galten.« Was aber hatten dann Ritter, Tafelrunde und Artus mit all dem zu tun?
    »Denken Sie daran, was die Legende sagt: Nur wer demütig ist, kann ihn schauen. Parzival hat das beim ersten Mal zu spät erkannt. Er versäumte es, die Frage zu stellen, mit der er den todkranken König Amfortas hätte erlösen können: Wie kann ich dir helfen?«
    »Dann ist die Gralslegende also lediglich eine Philosophie?«, überlegte Mike. »Eine Religion, die sich von der Amtskirche unterscheidet?«
    »Sie unterschlagen mir schon wieder den Dualismus!«, mahnte Jean. »Sie dürfen Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Der Gral hat zwar mit einer Philosophie, mit einer Art zu leben, zu tun. Der Gral ist in seinem ureigensten Sinne aber auch etwas, das sehr real und sehr gefährlich ist!«
    »Warum?«
    »Weil der Gral zu einer fast unbegrenzten Macht verhilft, junger Freund. Er ist eine unglaubliche Waffe. Würde man sie gegen die Menschheit einsetzen, wären wir alle hoffnungslos verloren. Das allein ist der Grund, weshalb nur diejenigen, die reinen Herzens sind, den Gral schauen und hüten dürfen. Nur in ihren Händen besteht die Sicherheit, dass sie seine Macht nicht missbrauchen.«
    Der Gral sollte eine Waffe sein? Mike wollte mehr darüber erfahren. Die Gelegenheit schien günstig. Es war das erste Mal, dass Jean in seinen diesbezüglichen Ausführungen etwas konkreter wurde – vielleicht, weil es Mike gelungen war, den Hinweis auf den Kelch in Boudets Buch zu verstehen?
    »Was genau ist dann der Gral?«, stellte Mike die Frage, die ihn die letzten Stunden immer wieder beschäftigt hatte.
    »Sie werden es sicherlich schon bald erfahren«, vertröstete ihn der alte Mann.
    »Nur ein Tipp«, bat Mike hartnäckig. »Ist es tatsächlich ein Kelch oder eine Waffe? Gar etwas Außerirdisches? Übersinnliches? In welche Richtung geht es?«
    Jean zeigte sich nachsichtig mit dem forschen jungen Journalisten. Die Beharrlichkeit gefiel ihm und er wollte sie belohnen.
    »Orientieren Sie sich am Dualismus, der Einheit der Zweiheit. Wenn Sie sich vor den Spiegel stellen, dann haben Sie ein Spiegelbild. Es sind zwei Seiten einer Sache, die komplett gegensätzlich und doch identisch sind. Auch Saunière hat sehr viel mit dem Spiegelbildlichen gearbeitet.«
    »Und was hat das jetzt mit dem Gral zu tun?«
    »Ganz direkt gefragt, junger Freund. Haben Sie schon einmal einen Spiegel gesehen?«
    »Natürlich!«, sagte Mike. »Mindestens zweimal am Tag. Jeden Morgen und jeden Abend.«
    »Sie irren!«, entgegnete Jean. »Was Sie gesehen haben, ist die Reflexion, das Spiegelbild. Nicht den Spiegel selbst! Denn streng genommen ist er für Sie, für mich, für uns alle unsichtbar. Und trotzdem ist er von ungeheurer

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