Es wird Dich rufen (German Edition)
alte Mann der Beantwortung seiner eigentlichen Frage ausgewichen war.
»Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Himmler selbst derjenige war, der Rahn die Grausamkeit des Regimes vor Augen führte, als er die Schrecken des Konzentrationslagers Buchenwald hautnah miterlebte. Schlagartig wurde ihm völlig klar, dass er die ganze Zeit für eine völlig falsche Sache gearbeitet hatte. Er muss sich vor seinen Freunden in Frankreich furchtbar geschämt und sich von den Nazis missbraucht gefühlt haben.«
»Und deshalb brachte er sich um?«, versuchte es Mike ein drittes Mal. »Er ist aus der SS ausgetreten. Sie müssen sich das einmal vorstellen – zu dieser Zeit! Das bedurfte großen Mutes, einen solchen Schritt zu gehen. Das war im Februar 1939. Was danach geschehen ist, können die Historiker nur schwer rekonstruieren. Es heißt, Rahn starb nur wenig später in der winterlichen Bergwelt bei Kufstein. Sein Leichnam wurde stark verwest gefunden – als der Frühling kam und das Eis taute.«
»Selbstmord?«, fragte Mike.
Warum fiel es Jean so schwer, auf diesen Verdacht einzugehen? »Das weiß niemand so genau. Die einen behaupten, er sei wegen seiner Homosexualität in den Freitod gegangen, die anderen sagen, er sei durch hochrangige Vertreter der SS dazu getrieben worden. Dann gibt es noch die Theorie, dass er ermordet worden sei. Es wird viel spekuliert, aber letztlich weiß keiner, außer Rahn selbst, was in dieser Todesnacht wirklich passiert ist.«
»Das ist doch wichtig!«, wunderte sich Mike. »Wenn es da irgendwelche Zweifel gegeben haben sollte …«
»Das ist nicht der Fall«, schien Jean kein Interesse daran zu haben, das Thema weiter zu vertiefen. »Ich denke, wir sollten es dabei belassen und die Toten in Frieden ruhen lassen. Die Vergangenheit ist passé. Jetzt geht es nur um Ihre Zukunft und was Sie daraus machen.«
41
»Alles klar!«, gab der General das Startzeichen. »Wir können!«
Vor seinem Hotel in Couiza hatten einige schwarzgekleidete Männer bereits ungeduldig auf dieses Signal gewartet. Sie zählten zu den Sympathisanten der »Söhne Luzifers«, die Boone kurzfristig organisiert hatte – inklusive der Fahrzeuge, die die kleine Gruppe nach Arques bringen sollten. Aus zuverlässiger Quelle hatte der General erfahren, dass der Wächter und der Journalist dort am späten Nachmittag erwartet wurden. Eine idealere Umgebung als das abgeschieden gelegene Château von Arques, konnte sich der Verwirklichung seines Vorhabens schließlich kaum bieten. Zeugen waren dort gewiss nicht zu erwarten. Sie hatten also freie Bahn.
Der General stieg in das für ihn bereitstehende Fahrzeug an der Spitze der kleinen Wagenkolonne. Dort hatte Boone bereits auf dem Beifahrersitz Platz genommen.
»Seien Sie doch ein bisschen gelassener«, riet ihm der General, als er in Boones roboterhaft eingefrorene Gesichtszüge blickte. »Es sieht doch alles gut aus!«
Ganz langsam drehte sich Boone dem General zu: »Sie wissen, dass es Ihre letzte Chance ist?«
»Und wenn schon«, blieb der General unbeeindruckt, während er den Motor startete. »Wenn sich alle an meine Vorgaben halten, dann kann nichts mehr schiefgehen.«
»Wie Sie meinen, General«, sagte Boone, richtete seinen Blick wieder nach vorne und setzte sich seine dunkle Sonnenbrille auf.
»Das gilt auch für Sie«, sagte der General mit Nachdruck. Die eisige Reaktion seines Gegenübers ließ ihn zweifeln, ob sich auch Boone an die Absprachen hielt. Bislang hatte er sich zumindest nicht dazu geäußert, ob er den Plänen des Generals vertraute oder nicht.
»Ich habe meine Befehle«, antwortete Boone kühl. »Und daran werde ich mich halten.«
42
»Irgendetwas stimmt nicht.«
Jean überraschte Mike mit dieser Aussage. Vor wenigen Minuten erst hatten sie ihre kurze Rast in Rennes-les-Bains beendet und waren aufgebrochen, um das Templermuseum von Arques aufzusuchen, das sich im Château befand.
Der alte Mann ließ sich von Mike chauffieren. Unruhig sah er dabei immer wieder um sich und prüfte, ob ihnen ein Wagen folgte. Doch an diesem wolkenverhangenen Nachmittag war offensichtlich niemand außer ihnen auf der kurvenreichen, schlecht ausgebauten Strecke unterwegs.
»Was ist los, Jean?«, fragte Mike, der sich von seiner Sorge anstecken ließ. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich habe einfach ein ungutes Gefühl.« »Inwiefern?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
Mike dachte darüber nach, wie er diese Aussage einschätzen
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