Es wird Dich rufen (German Edition)
begreifen, was Sie können und wer Sie sind.«
Die Frau deutete auf die vorletzte Karte, die auf dem Kopf lag. Eine Frau, die in ein langes weißes Kostüm gekleidet und mit einem Haarkranz aus Blumen geschmückt war, streichelte einen Löwen.
»Eigentlich vermittelt diese Karte Kraft, Mut, Selbstvertrauen und einen festen Willen. Allerdings ist sie nach oben gedreht. Das belegt erneut, dass Sie noch suchen und hin- und hergerissen sind zwischen Glauben und Realität. Wichtig ist, dass Sie für alles offenbleiben, Herr Dornbach, denn sehen Sie: Der Wagen, der bei Ihnen die Spitze des Kreuzes bildet, steht für einen Sieg auf der ganzen Linie. Der Triumph kann Ihrer sein, vorausgesetzt«, mahnend zeigte Sie auf die Teufels-Karte, »Sie werden diesen besiegen!«
»Wie ich das machen soll, das steht nicht zufällig dabei?«
»Darüber geben die Karten leider keine Auskunft. Bleiben Sie sich einfach selbst treu. Glauben Sie an Ihren festen Willen und bauen Sie ruhig auf Ihre geheimen Beschützer. Lassen Sie sich darauf ein, auch wenn es Ihnen zunächst unangenehm erscheinen mag. Das ist der Ratschlag, den ich Ihnen geben möchte. Beherzigen Sie ihn!«
»Ich will es versuchen«, sagte Mike. »Danke! Das war interessant. Mehr als ich – offen gesagt – angenommen hätte.«
»Ich weiß«, lächelte sie. »Das sagen mir immer alle, die ich zum ersten Mal berate – natürlich erst hinterher …«
40
»Ich kenne ein nettes Café am Marktplatz«, sagte Jean. »Wenn Sie mögen, können wir uns dort ein wenig ausruhen. Bis zu unserem Termin in Arques ist noch Zeit.«
Erst am späten Nachmittag waren sie mit Dr. Gerard Pellier verabredet. Er war der Leiter des Templermuseums in Arques. Jean bestand auf einem Treffen mit ihm. Warum, sagte er nicht. Mike nahm allerdings an, Pellier sollte ihm noch einiges über die Templer beibringen.
In den letzten beiden Stunden hatte der alte Mann Mike mit der Umgebung von Rennes-les-Bains vertraut gemacht. Es war ein malerischer Ort mit vielen Heilquellen und einem zart dahinplätschernden Bach, der eine sanfte Ruhe ausstrahlte. Es wunderte Mike nicht, dass sich hier zahlreiche Kurgäste aufhielten.
Während ihrer Runde durch den Ort hatte er einige Male versucht, mit dem alten Mann über die Aussagekraft von Tarotkarten zu sprechen und ihn zu fragen, was er davon hielt. Doch Jean hatte sich nur bedingt darauf eingelassen. Mike hatte ihm nur so viel entlockt, dass Saunière – welch eigenartiger Zufall – offenbar in seiner Kirche mit Motiven des Tarots spielte. Das keltische Kreuz etwa, das die Dame Mike am Morgen gelegt hatte, war in die Asmodeus-Statue mit den vier über ihn wachenden Engeln eingebettet.
Kaum hatte Jean ihm das erzählt, kreisten Mikes Gedanken um die zentrale Aussage, die ihm die Karten angeblich mit auf den Weg gegeben hatten: Er würde von höheren Mächten beschützt, müsse aber den Teufel besiegen, um sein Schicksal zu erfüllen.
Nie hätte er beim ersten Betreten der kleinen Kirche gedacht, eines Tages ernsthaft darüber nachdenken zu müssen, ob die skurrile Statue des Asmodeus tatsächlich seinen zukünftigen Lebensweg beschreiben könnte. Erst seit diesem Morgen durfte er begründet annehmen, dass sowohl die Tarotkarten als irgendwie auch die Statue am Eingang der Dorfkirche von seinem Schicksal erzählten, als hätte Saunière diesen Moment vor über hundert Jahren vorausgeahnt. Mehr noch: als wären Karten und Statue wie Spiegelbild und Original.
Auch hier schien der Dualismus am Wirken – dieses Mal seltsamerweise bezogen auf seine eigene Person. Auf ihn, Mike Dornbach. Oder bildete er sich doch nur alles ein?
Auf der Freiterrasse des Cafés, das sich in unmittelbarer Nähe zum Dorfzentrum befand, entdeckte Jean einen weitläufigen Sonnenschirm, der sich ihnen als Schattenspender unter der heißen Mittagssonne anbot.
»Sie scheinen mit Ihren Gedanken nicht ganz bei der Sache«, erkundigte sich Jean besorgt. Natürlich war ihm die ungewohnte Nachdenklichkeit seines Schützlings nicht verborgen geblieben. Den Kopf fast schamhaft nach unten gesenkt, hatte Mike einige Minuten lang wortlos auf den Boden gestarrt und noch nicht einmal bemerkt, dass der Kellner vorbeigekommen war, um die Bestellung aufzunehmen. Jean hatte für ihn eine kleine Flasche Mineralwasser geordert.
»Das ist alles so irreal«, bemerkte Mike, während er sich aufrichtete und Blickkontakt zu dem alten Mann suchte. »Halten Sie es ernsthaft für möglich, dass ich nach dem
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