Es wird Dich rufen (German Edition)
Heiligen Gral suchen soll? Soll das die Aufgabe meines Lebens sein?«
»Sie würden damit in prominenten Fußspuren wandeln«, sagte Jean und zündete sich gemütlich eine Pfeife an.
»Sie meinen Otto Rahn?«, hakte Mike nach, nachdem sein Begleiter – wie so oft – darauf verzichtete, konkreter zu werden. »Ich muss häufig an diesen Mann denken.«
»Eine interessante Persönlichkeit«, nickte Jean.
»Ich habe in dem Buch gelesen, das Michelle mir gab. Es fallen einige Andeutungen, allerdings geht der Autor nicht so sehr ins Detail, sodass ich mich fragte ...«
»Ja, bitte?« Jean war ganz Ohr.
»Sie sagten doch, dass Sie Marie Dénarnaud gut gekannt haben. Hat Sie jemals mit Ihnen über Rahn gesprochen?«
»Lassen Sie es mich so formulieren: Ich habe durch Marie tatsächlich einiges über den Menschen Otto Rahn erfahren. Das ist richtig.«
»Und wie war er?«
»Nun, er war wissbegierig, neugierig. Er fühlte sich berufen und zu einer geistigen Elite gehörig. Allerdings kann man ihn nicht von einer fast unglaublichen Naivität freisprechen – und von einem unschönen Geltungsdrang. Dadurch beging er manchen Fehler und bemerkte erst spät, was er mit einer einzigen falschen Entscheidung alles angerichtet hatte. Manchmal war er ziemlich weltfremd und redete sich um Kopf und Kragen. Ich denke, so könnte man ihn am besten beschreiben.«
»Was ich nicht begreife, Jean: Wie kann ein solcher Mensch in die Fänge der Nazis geraten? Er hat sie doch unterstützt, oder?«
»Das ist richtig. Rahn war eine ganze Zeit lang die rechte Hand von Heinrich Himmler.«
»Und genau das ist mir unbegreiflich. Sie sagten einerseits, dass man demütig sein muss, um den Gral zu finden. Andererseits arbeitet der Gralssucher Rahn aber für ein bestialisches Regime. Das passt doch nicht zusammen?«
Jean verstand Mikes Zweifel nur zu gut.
»Ich habe mich oft und lange mit Deodat Roché unterhalten, einer der bedeutendsten Historiker im Bereich der Katharerforschung. Er kannte Rahn gut. Die beiden haben viel gemeinsam unternommen, sind auf den Spuren von Saunière gewandelt und haben sein Erbe bewahrt. Rahn hat damals eigentlich nur einen folgenschweren Fehler begangen. Aufgrund seines nur bescheidenen Wissens über die tatsächliche politische Lage in Deutschland, sah er die Nationalsozialisten als legitime Vertreter eines neuen Bundes an, den es zu unterstützen galt. Hinzu kam, dass Himmler sich für die Forschungen Rahns interessierte und ihm dabei half. Der Moment, in dem sich die beiden Männer begegneten, war der Augenblick, in dem Rahn den falschen Weg einschlug.«
»Wie konnte das geschehen?«, wunderte sich Mike.
»Himmler hat ihm geholfen, etwas zu bekommen, wonach sich Rahn sehnte. Sie müssen wissen, dass er sich als Hotelier versucht hat, während er sich in Frankreich aufhielt. Es war seine zweite Heimat geworden, in der er sich wohl und geborgen fühlte. Nun, die Hotel-Sache war ein Flop. Rahn hatte plötzlich Schulden, die er nicht mehr überblicken konnte. Nur weil er von seinem Verleger einen Vorschuss kassierte, war es ihm überhaupt möglich, sie zurückzuzahlen. Trotzdem wurde er Anfang 1930 des Landes verwiesen – für immer. Ein schwerer Schlag, den er kaum verkraftete.«
»Und was hatte Himmler damit zu tun?«
»Himmlers Einfluss ermöglichte Rahn, seine Studien dennoch, wenn auch geheim und unter falschem Namen, in Frankreich fortzusetzen. Aus Dankbarkeit und ein bisschen aus Eitelkeit berichtete er dem Reichsführer SS von den Ergebnissen all seiner Arbeiten und hielt ihn stets auf dem Laufenden. Zum damaligen Zeitpunkt – das muss man zu Rahns Ehrenrettung sagen – ist er nie und nimmer von den katastrophalen Folgen ausgegangen, die das Nazi-Regime verursachte. Er war schlicht naiv.«
»Das heißt also, er hat die Konsequenzen gezogen, als er merkte, dass etwas nicht stimmte, und hat sich das Leben genommen?«
»Nun, es ist zunächst so, dass Rahn die Schergen der SS auf diese Gegend aufmerksam machte. Deshalb suchte Himmler auch hier nach dem Gral. Wenn sie noch ein bisschen mehr Zeit gehabt hätten, dann wäre es ihnen wahrscheinlich sogar gelungen, ihn zu finden. Nicht umsonst sprachen die führenden Kreise während des Krieges von einer Superwaffe, die sie bald in ihrem Besitz wähnten. Glauben Sie mir: Es hat nicht viel gefehlt und die ganze Welt wäre in ein noch viel schlimmeres Desaster gestürzt, als sie es ohnehin schon war.«
»Und Rahn?«, hakte Mike freundlich nach, nachdem der
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