Es wird Dich rufen (German Edition)
sollte. Es war das erste Mal, dass er den alten Mann derart nervös erlebte – und das aus scheinbar heiterem Himmel. Noch in Rennes-les-Bains war Jean absolut gelöst gewesen, ein entspannter Mann, der in sich ruhte. Doch binnen weniger Momente hatte sich das völlig verändert.
»Hat es mit diesem Boone zu tun?«, fragte Mike.
»Vielleicht – ich bin mir nicht sicher.«
»Aber sagten Sie nicht, dass er uns nichts antun kann?«
»Solange Sie in meiner Nähe bleiben, nicht.«
»Das sollte das geringste Problem sein.«
Völlig unerwartet trat Mike plötzlich abrupt auf die Bremse. Nur ihre Sicherheitsgurte bewahrten sie davor, frontal gegen die Windschutzscheibe zu prallen. Dies hatte jedoch weniger mit Jeans Befürchtungen zu tun, als vielmehr damit, dass Mike etwas entdeckt zu haben glaubte. Etwas, das ihm vertraut vorkam.
»Was um Himmels willen haben Sie vor, junger Freund?«, erkundigte sich Jean. »Ich bin zwar schon ein alter Mann, aber ich habe nichts dagegen, noch etwas älter zu werden!«
»Gleich!«, kommentierte Mike und schaute hinter sich. Die Straße war frei, er setzte sein Fahrzeug einige Meter zurück und hielt in einer kleinen Parknische direkt neben einer Auffahrt, die zu einem Gehöft unweit der Straße führte. Dort stieg er aus. Jean folgte ihm.
»Die Gegend hier kommt mir bekannt vor«, sagte Mike. »Tatsächlich?«
Mike überlegte einen Augenblick, dann fiel ihm wieder ein, wo er diese Landschaft schon einmal gesehen hatte – auf der Postkarte mit dem Gemälde der »Hirten von Arkadien«.
»Das sieht doch genauso aus!«, stellte Mike fest, nachdem er in seiner Jacke nach der Postkarte gekramt und einen prüfenden Blick auf sie geworfen hatte. Er zeigte sie Jean.
»Das ist doch hier, oder nicht?«
»Sie brauchen sie mir nicht zu zeigen, ich kenne das Gemälde«, nickte der alte Mann. »Ja, es ist hier. Das haben Sie ganz richtig erkannt.«
»Warum haben Sie denn nichts gesagt?«, schüttelte Mike den Kopf. Sonst erzählte der alte Mann doch auch immer so vieles.
»Es schien mir nicht nötig. Sie haben es doch selbst bemerkt!«, antwortete Jean gelassen. »Zudem müssen wir nach Arques!«
»Das kann warten!«, ignorierte Mike seine Äußerung, die einer klaren Aufforderung zur Weiterfahrt gleichkam. Es gab Wichtigeres, das ihn jetzt bewegte. »Dann müsste doch auch der Sarkophag hier zu finden sein?«
»Nein«, widersprach Jean. »Es gibt hier keinen Sarkophag. Zumindest jetzt nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Sie sind schon lange zerstört worden.«
»Sie?«, fragte Mike verwirrt.
»Es gab zwei Sarkophage, die hier in der Nähe standen. Der eine ist ziemlich alt, existierte noch zu Zeiten des Abbés Bigou. Der andere wurde später an dieselbe Stelle gebracht, diente auch als Grab, wurde dann aber von seinem Besitzer wieder entfernt. Man vermutet, dass zumindest eine der beiden Steinplatten, die Bigou nach Rennes-le-Château gebracht und als Grab von Marie de Negre d´Ables ausgegeben hat, aus diesem Sarkophag stammte, den auch Poussin als wichtigen Hinweis in seinen Gemälden hinterlassen hat. Es war jene mit der Gravur: Et in arcadia ego!«
»Ist das nicht auch die Botschaft von Poussin?«, überlegte Mike. »Ich meine, er muss doch einen Grund dafür gehabt haben, dass er diese Stelle mit diesem Zitat malte – oder nicht?«
»Den Grund hatte er und Bigou und seine Zeitgenossen haben ihn auch sicherlich gekannt. Nicht umsonst wurde Abbé Saunière auf genau dieses Gemälde aufmerksam gemacht. Nur damit konnte er schließlich den falschen Grabstein in Rennes-le-Château endgültig identifizieren. Sie erinnern sich, dass Saunière das wahre Grab der Marie de Negre d´Ables in der Gruft entdeckt hatte? Poussins Gemälde lieferte ihm den letzten Beweis, dass der Grabstein auf dem Friedhof nicht das war, was er zu sein schien.«
»Dann ist das Gemälde als Hinweis heutzutage also nutzlos?« »Nein! Natürlich nicht! Es ist wichtig zu wissen, dass Poussin noch andere Hinweise in diesem Bild hinterlassen hat, aber er hat das wesentlich subtiler gemacht. Die Künstler versuchten damals oft, mit ihren Gemälden eine Geschichte zu erzählen – und sie waren eingeweiht in das Geheimnis der Heiligen Geometrie.«
»Den Begriff habe ich schon einmal gehört«, sagte Mike.
»Bei der Heiligen Geometrie geht es um die Frage, welche Figuren der Künstler verwendet und wie er sie angeordnet hat.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es ist ganz einfach: Sie müssen den Code des
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