Es wird Dich rufen (German Edition)
Künstlers kennen.
Nehmen wir an, Poussin kannte ein Geheimnis und wollte es in seine Bilder übertragen. Sie müssen dann bei Poussin nach den verwendeten Figuren suchen und diese in eine bestimmte Reihenfolge bringen, die eben dem Poussin-Code entspricht.«
Jean bat Mike um die Postkarte. Er zückte einen Stift und malte ein Dreieck darauf, das drei der Hirten miteinander verband. Danach zeichnete er ein Quadrat um den Sarkophag.
»Wenn wir annehmen, dass der Code vorsieht, zuerst das Dreieck und dann das Quadrat zu nehmen, so wäre die Geschichte: Drei Hirten bewachen ein Grab. Würde das Quadrat allerdings an erster und das Dreieck an zweiter Stelle stehen, wäre die Botschaft eine gänzlich andere, denn dann müsste sie gelesen werden als: das Grab der drei Hirten.«
So weit hatte Mike das System begriffen.
»Leider ist diese Art der Entschlüsselung von Poussins Gemälden sehr kompliziert und nur sehr wenigen Menschen überhaupt bekannt. Sie müssten sich direkt an die Kunstwissenschaftler wenden, die sich mit dem Meister beschäftigen.«
»Und die Landschaft verrät, wo sich die Geschichte abgespielt hat?« »In diesem Fall, ja«, sagte Jean. »Wobei ich nicht weiß, ob das bewusst so gemacht wurde oder ob es sich um einen Zufall handelt, denn normalerweise hat Poussin die Hintergründe nicht selbst gemalt. Das hat er seinen Schülern überlassen.«
»Aber wie war es dann möglich, den Ort zu erkennen?«
»Sie müssen nur genau hinschauen«, lächelte Jean. »Sehen Sie sich den Sarkophag doch mal etwas genauer an!«
»Sie meinen den Schriftzug?«
»Et in arcadia ego.«
»Aber das ist doch keine Ortsangabe?«
»Wenn Sie genau hinschauen, dann schon. Lesen Sie mit den Mitteln der punischen Sprache, also nach den Lauten, nicht nach den Silben.«
Mike fiel auf, dass einer der Hirten auf drei Buchstaben zeigte, die – im Gegensatz zu den übrigen – deutlich abgesetzt und daher sehr gut lesbar waren: »ARC«.
»Das klingt, wie Arques?«, stellte Mike fest.
»Sie haben verstanden, was ich meine!«
»Also befindet sich das Geheimnis in Arques? Fahren wir deshalb dorthin?«
»Poussin hat die Doppeldeutigkeit ausgenutzt, die sich ihm hier bot. Schließlich gibt es in Frankreich noch mehrere Orte, die den Namen Arques tragen.«
»Und wer sagt dann, dass wir hier richtig sind?«
»Weil Poussin ein Fuchs war. Wenn Sie die Buchstaben nämlich voneinander trennen, dann ergibt sich A – R – C. Allgemein liest man das als: à Rennes-Château. Das heißt, dass die Szene – oder das Geheimnis – sich in der Umgebung zwischen Arques und Rennes-le-Château abspielt. Erinnern Sie sich an die Karte in Boudets Buch! Sie zeigt exakt diese Landschaft!«
»Das ist verblüffend!«, bekannte Mike. »Also geht es um ein Grab mit einem Sarkophag hier in der Nähe?«
»Es gibt kein Grab. Betrachten Sie das Bild genauer«, blieb Jean ihm eine konkrete Antwort schuldig.
Sorgfältig bemühte sich Mike, das Gemälde zu analysieren – entsprechend der Hinweise, die er von Jean erhalten hatte. Die Parallelen eines Grabes waren unübersehbar. Doch wen mochten die vier Hirten symbolisieren? Und warum wies der am rechten Rand stehende Hirte deutlich weibliche Züge auf?
»Tut mir leid. Ich komme nicht dahinter«, legte Mike das Bild schließlich zur Seite, nachdem er es lange, wenn auch vergeblich studiert hatte.
»Konzentrieren Sie sich nicht auf die Personen«, riet Jean. »Erfassen Sie das Ganze!«
»Tut mir leid«, wiederholte Mike und zuckte mit den Schultern. »Ich habe absolut keine Ahnung.«
»Aber Sie verstehen die lateinische Sprache?«
»Nur ein wenig«, bekannte der Journalist. »Es ist lange her.« »Wissen Sie, was man unter dem Begriff ›arcadia‹ versteht?« »Natürlich!«, nickte Mike. »Arkadien, die mythologische Landschaft, in der Götter und Menschen zusammenleben. Ein Stück der griechischen Sagenwelt.«
»Das ist richtig, das Tal der Götter«, sagte Jean. »Doch beachten Sie bitte die bewusste Trennung, die Poussin hier andeutet. Er spricht de facto nicht nur von diesem göttlichen Tal, sondern auch von der arca, der göttlichen Lade.«
Die göttliche Lade?
»Sie meinen aber nicht die Bundeslade?«, fragte Mike skeptisch. Jener Kultgegenstand aus dem Alten Testament, eine mit Gold überzogenen Truhe aus Akazienholz, auf der zwei Gestalten thronten, die an eine Sphinx erinnerten. Moses hatte sie beim Auszug der Israeliten aus Ägypten mitgeführt – als Symbol der Gegenwart
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