Escape
so etwas Ähnliches bereits in Sams Akte gelesen hatte, war es noch mal etwas komplett anderes, die Jungs in ihrem Rollenverhalten zu erleben. Ich musste auch sofort wieder an das Wort Alpha aus Sams Aktennotiz denken.
»Könnte man so sagen.«
»Was genau haben die genetischen Veränderungen denn bewirkt? Weißt du das?«
Er wandte sich ab, sah in die Ferne und seufzte. »Sie haben etwas Übermenschliches aus mir gemacht, aber was genau, kann ich erst beurteilen, wenn ich weiß, wer ich vorher war.«
»Und du glaubst, dass die Adresse, die mein Vater dir genannt hat, dir helfen könnte, deiner Vergangenheit auf die Spur zu kommen?«
»Ja.«
Durch das hell erleuchtete Fenster konnte ich beobachten, wie Cas und Trev gerade an die Kasse traten und bergeweise ungesundes Zeugs auf dem Tresen abluden. Cas warf schnell noch eine Packung Jerky obendrauf, bevor er zu uns schaute. Ich spürte, dass auch Nick uns von der Zapfsäule aus beobachtete. Sie schienen zu wissen, dass Sam sich unwohl fühlte.
»Ihr seid alle miteinander verbunden«, stellte ich fest, ein wenig überrascht, dass es mir nicht schon früher aufgefallen war. »Jeder weiß, was der andere fühlt, ohne dass ihr es aussprechen müsst.«
Das erinnerte mich an meine ersten Abende im Labor, an denen Sam mir das Schachspielen beibrachte. Er gab mir immer mal wieder Tipps, weil ich überhaupt keine Ahnung von dem Spiel hatte. Er hingegen entpuppte sich als Genie, was Strategien anging.
»Es geht um weit mehr als nur um das Spiel«, hatte er einmal gesagt. Das musste im tiefsten Winter gewesen sein, noch lange bevor ich die Erlaubnis hatte, mich im Labor aufzuhalten. Ich fürchtete damals, jeder meiner Atemzüge würde so laut durch die Belüftungsanlage schallen, dass Dad davon aufwachen musste.
»Die Figuren sind nur ein kleiner Teil«, fuhr Sam fort. »Das Wichtigste ist, seinen Gegner zu lesen. Ihn zu beobachten, während er seinen nächsten Zug plant. Manchmal kann man schon erkennen, was er als Nächstes machen wird, bevor er es selbst weiß.«
Ich grinste. »Das glaube ich nicht.«
Er ließ seinen Arm über die Lehne hängen. »Probiers aus.«
»Ich verliere doch sowieso. Wie sollen wir denn herausfinden, ob du recht hast, wenn es keine Vergleichsmöglichkeiten gibt?«
Ein kurzes Lachen entfuhr ihm. »Gut, das stimmt natürlich.«
Ich betrachtete ihn jetzt von der Seite, seine Augen lagen in der Dunkelheit verborgen. Er war immer sehr gut darin gewesen, mich zu lesen. Viel besser, als ich darin war, ihn zu lesen. Unwillkürlich fragte ich mich nun, ob dies eher mit den genetischen Modifikationen zusammenhing als mit meinem Gesichtsausdruck. Oder ob uns eben doch etwas Besonderes verband, das uns zu Freunden machte.
Ich hätte ihn am liebsten gefragt, ob er auch spüren konnte, was in mir vorging - gerade jetzt, in diesem Augenblick. Andererseits wollte ich es lieber gar nicht wissen, um mir diese Peinlichkeit zu ersparen.
»Wie funktioniert das? Eure Verbindung? Wie muss ich mir das vorstellen?«
Er stützte sich mit dem Ellbogen auf den Griff der Fahrertür. »Sie scheint an einen Instinkt gekoppelt zu sein. Am schwersten lässt sie sich ausblenden, wenn einer von uns angespannt ist oder sich in Gefahr befindet. Ich habe es meist gespürt, wenn du den anderen Blut abgenommen hast. Da war so ein Drang, ihnen zu helfen, egal ob ich wollte oder nicht. Es fällt mir verdammt schwer, mich auf das zu konzentrieren, was ich will, wenn ich außerdem immer das Wohl der Gruppe im Blick haben muss. Letztendlich muss ich aber immer das tun, was für uns alle am besten ist.«
So sehr es mich verletzte, dass er mich all die Jahre nur benutzt hatte, damit ich ihm irgendwann mal bei der Flucht half, ich konnte seine Beweggründe verstehen. Ich verstand, wie tief sein Bedürfnis verwurzelt war, die anderen zu beschützen. Es war in seine Gene programmiert worden. Er hatte gar keine Wahl.
»Und im Moment?«, fragte ich. »Was spürst du gerade?«
Er öffnete leicht den Mund und ich hielt den Atem an, weil ich nichts lieber hören wollte als diese Antwort. Ich wollte wissen, ob auch ich dazugehörte, ob er auch mich beschützen musste. Obwohl ich mir nicht sicher war, was das für mich bedeuten oder was für Gefühle das in mir auslösen würde.
Eigentlich wollte ich auch nur wissen, ob ich ihm überhaupt etwas bedeutete.
Genau in diesem Augenblick kam Cas auf den SUV zugestürmt. »Es gibt einen Gott! Seht nur, was ich gefunden habe!« Er riss die
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