Escape
durchdrehenden Reifen Grasbüschel hochschleuderten. Nachdem wir den Hügel und das Haus weit genug hinter uns gelassen hatten, bremste Sam plötzlich scharf.
Ich konnte mich gerade noch mit einer Hand am Armaturenbrett abstützen, Trev wurde mit einem Uff gegen meinen Sitz geschleudert. Eine Staubwolke trieb an uns vorbei und tanzte in den Lichtkegeln der Scheinwerfer.
»Was soll der Scheiß?«, fluchte Nick.
Sam fuhr rechts ran. Dann lehnte er sich zu mir herüber und ich hielt den Atem an. »Was verschweigst du mir? Was hat es mit dem Zettel auf sich?«
Mir blieb die Spucke weg. »Nichts.«
»Jetzt stell dich nicht dumm.«
Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich konnte ihm nicht sagen, dass die Handschrift aussah wie die meiner Mutter. Ich war zu müde, zu angespannt. Ich bildete mir das doch nur ein.
»Ich stell mich überhaupt nicht dumm.«
Mit Mühe versuchte ich, meine Gefühle im Zaum zu halten, während Sam mich ganz genau betrachtete. Bevor ich wusste, was geschah, hatte er sich Moms Tagebuch geschnappt, es auf seinem Schoß aufgeschlagen, die Notiz daneben. Ich wollte es ihm abnehmen, doch er wehrte mich nur ab.
Jetzt würde er erkennen, dass ich verrückt war. Dass ich meine Mutter an Orten sah, an denen sie unmöglich sein konnte. Alles nichts als Wunschdenken.
Als sich einen Moment später unsere Blicke trafen, wurde ich ganz klein.
»Das ist die Handschrift deiner Mutter.«
»Alter Falter«, rief Cas.
Trev lehnte sich vor, um es mit eigenen Augen zu sehen.
»Super«, stöhnte Nick.
Ich schüttelte den Kopf. Meine Mutter war tot. Tot. Mein Vater würde mich doch bei einer so wichtigen Sache nicht belügen. Außerdem kannte Mrs Tucker, oder wie auch immer sie hieß, Sam. Meine Mutter konnte ihn unmöglich gekannt haben.
»Das ist nur Zufall«, sagte ich kleinlaut.
Trev räusperte sich. »Zufälle gibt es nur sehr selten. Meistens sind sie nichts als lahme Ausreden.«
Ich schickte einen finsteren Blick in seine Richtung. Wieso war er nicht auf meiner Seite? »Das ist aber keine Ausrede.« Er musste von allen Jungs doch am besten wissen, wie sehr ich mir wünschte, dass meine Mutter Teil meines Lebens war. Ich wollte jetzt nicht anfangen zu hoffen, denn dann würde es nur umso mehr wehtun, wenn es sich als falsch herausstellte. »Meine Mutter ist tot. Das ist eine Tatsache, keine Ausrede.«
Ich spürte, wie die Jungs mich in der Dunkelheit musterten.
Ich hatte weder die Kraft noch das Selbstvertrauen, mit ihnen zu diskutieren. Zweifel befielen mich. Es sah aus wie ihre Handschrift. Und wenn das jemand wusste, dann ich, schließlich hatte ich die letzten Jahre damit verbracht, ihr Tagebuch unermüdlich immer wieder zu lesen.
Wenn sie noch lebte...
Ich ging gedanklich zurück zu dem Haus. Die Küche. Die Farbe der Wände. Der Geruch im Wohnzimmer. Ich versuchte, mich an die Dinge zu erinnern, mit denen »Mrs Tucker« sich umgeben hatte, versuchte ein Gefühl dafür zu bekommen, ob ich darin meine Mutter erkannte.
Doch es war sinnlos. Ich hatte mich nicht genau genug umgesehen, bis ich den Klebezettel gefunden hatte, und da war es schon zu spät gewesen.
»Wir sollten weiterfahren«, sagte ich. »Der Polizist hat bestimmt schon jemanden verständigt und Verstärkung ist unterwegs.« Als sich niemand rührte, brüllte ich: »Sam! Fahr weiter!«
Endlich setzte er den Blinker und steuerte den Wagen Richtung Freeway.
10
Ein paar Monate zuvor hatte ich mich mit Trev über Mütter beziehungsweise ganz allgemein über Familie unterhalten.
»Die Familie ist wichtig«, hatte er gesagt. »Sie legt den Grundstein für das, was wir werden.«
Ich musste unweigerlich an meinen Vater denken. Wenn ich nach ihm kam, würde ich zu einem Workaholic ohne nennenswertes Privatleben außerhalb des Labors heranreifen. Manchmal fand ich den Gedanken gar nicht so schlimm, schließlich waren da ja auch Sam und die anderen.
»Fehlt dir deine Mutter?«, hatte Trev gefragt.
Ich hatte mich mit der Hüfte gegen die Scheibe gelehnt. »Mir fehlt es ganz allgemein, eine Mutter zu haben.«
»Du und ich, wir sind die Summe der Leere, die das Fehlen einer geliebten Person verursacht hat.«
»Ich habe keine Ahnung, was du da gerade gesagt hast.«
Er grinste. »Dass ich deinen Schmerz nachvollziehen kann.«
Wenn ich je davon ausgegangen wäre, nichts mit den Jungs gemein zu haben, bewies diese Unterhaltung mit Trev eindeutig das Gegenteil.
»Was würdest du sagen oder machen, wenn du deiner Mutter irgendwann mal
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