ESCORTER (German Edition)
schauerlichen Heulen, ein Laut getränkt mit unendlicher Qual. Doreé erbleichte. »Was ist das?«
»Lass mich rein, schnell«, drängte Ophelia.
»Die Tür steht doch offen, wo ist das Problem?«, erwiderte Doreé.
Ophelia schüttelte den Kopf. »Kann nich, wenn du sagst, nein.«
Doreé rieb sich über die Stirn. »Ich verstehe das alles nicht. Was zur Hölle geht hier vor sich?«
»Lass mich rein, bitte«, flehte Ophelia. Wieder ein Krachen und dann das Geräusch splitternden Holzes.
»Was ist dort oben? Ist es gefährlich? Sag es mir, verdammt! « Doreé schrie nun fast. Ihr Körper versteifte sich vor verzweifelter Wut. Warum konnte Ophelia ihr nicht einfach sagen, was hier los war? Doch die Haushälterin schwieg, nur ihr Blick sprach Bände.
Sie hatte Angst. Schreckliche Angst.
»Ach leck mich doch!«, stieß Doreé hervor, rannte in die Küche, zog das größte Messer aus dem Messerblock und stürmte die Wendeltreppe hinauf. Der faulig beißende Geruch verstärkte sich bei jedem Schritt. Ohne innezuhalten, folgte sie dem Krachen und Splittern und stürmte schließlich in das Schlafzimmer ihrer Mutter. Achtlos trat sie eine mit Wasser gefüllte Kupferschale zur Seite, trampelte Blätter und winzige Knochenfragmente nieder, von denen sie lieber nicht wissen wollte, woher sie stammten, und riss die Tür zum Wandschrank auf. Bis auf zahllose Kleider und Schuhe war er leer. Der Gestank war nun so stark, dass sie einen Würgereiz unterdrücken musste. Mit einem angewiderten Laut zog sie ihr T-Shirt über Mund und Nase. Das krachende Geräusch stoppte abrupt. Aufmerksam blickte Doreé sich um. An der gegenüberliegenden Wand hinter den Designer Hosenanzügen entdeckte sie Risse, die sich über die gesamte Schrankbreite zogen. Hastig schob sie die Bügel zur Seite, hielt dabei so weit wie möglich Abstand, bereit zur Flucht, sollte sich eine Gefahr zeigen.
Nie hatte Doreé den Schrank betreten dürfen, in dieser Hinsicht war die Anweisung ihrer Mutter strikt gewesen und Doreé begann zu verstehen, warum. Etwas verbarg sich hinter Joop, Chanel und Calvin Klein. Eine unsichtbare Tür. Vorsichtig tastete sie die hauchfeinen Fugen ab, die nun durchbrochen waren von breiten Rissen. »Ist da jemand?«
Keine Antwort.
»Hallo?«
Eine leise Stimme in ihr warnte sie, sagte ihr, dass sie auf David warten sollte, doch der Drang, das Geheimnis ihrer Mutter zu lüften, war stärker.
Ein klagendes Wimmern erklang, Mitleid erregend und elend, kaum noch menschlich zu nennen.
»Wer ist da?«, versuchte Doreé es erneut.
Sie begann nun gezielt, die Tür abzusuchen, fand jedoch weder einen Griff noch ein Schloss. »Ich kann es nicht öffnen«, rief sie.
Plötzlich erzitterte die Tür, Holz krachte und splitterte. Jemand warf sich von innen gegen die Wand. Doreé wich zurück, hielt das Messer fest umklammert. Wer oder was auch immer sich hinter der Tür verbarg, es war ungewiss, ob es ihr freundlich gesonnen sein würde. Wieder und wieder ließ die Kreatur die Wände erzittern, stieß dabei wütende, schmerzerfüllte Laute aus. Eine Mischung aus Stöhnen und Schreien. Lange würde das Holz nicht mehr standhalten.
Drei Angriffe später barst es mit einem ohrenbetäubenden Kreischen. Holzsplitter schossen durch den Raum. Doreé schrie auf, duckte sich und versuchte, ihren Kopf mit den Armen zu schützen. Als sie wieder aufblickte, sah sie einen schmalen Durchgang, der zu einer niedrigen, etwa drei Meter breiten Kammer führte. Dort, im Halbdunkel, stand ein in Lumpen gekleideter Mann. Er wimmerte, hielt sich die Schulter, mit der er wieder und wieder die Tür gerammt hatte. Bleiche, kränkliche Haut, glänzend wie Wachs, spannte sich über einen ausgemergelten Leib. Millimeterkurz geschorene, schneeweiße Haare bedeckten den Kopf. Die Haut war übersäht mit Schorf und offenen Wunden. Ein Dutzend ausgeweidete Ratten lag zu seinen Füßen. Langsam hob er den Kopf und blickte sie aus tief liegenden, fiebrig glänzenden Augen an. Doreé kannte das Gesicht, kannte es gut, auch wenn es kaum noch Ähnlichkeit mit dem Mann aufwies, der es einst getragen hatte.
»Papa?«, stieß sie entsetzt hervor.
10
Die gesamte Nacht hindurch brannten die UV-Röhren auf Desoderia nieder. In regelmäßigen Abständen schaltete der Aufpasser sie aus, gab ihr eine halbe Stunde gnädige Dunkelheit, doch nie lange genug, um sich erholen zu können. Schwindel und heftige Übelkeit machten ihr zu schaffen. Am Schlimmsten
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