ESCORTER (German Edition)
Verfassung. Leise schloss Doreé die Tür auf und schlich in den Flur. Sie sehnte sich nach Trost und wünschte sich ihren Vater herbei oder Betty oder wenigstens ihre Mutter, die sie zwar nicht umarmen, ihr aber zumindest höflich zuhören würde. Auf leisen Sohlen stapfte sie in die Küche, füllte den Wasserkocher und nahm eine Tasse aus dem Schrank. Die Teeauswahl war überschaubar. Kamille, Pfefferminz und Früchtetee. Doreé entschied sich für Pfefferminz. Gegen die Arbeitsfläche gelehnt wartete sie darauf, dass das Wasser zu blubbern begann. Trotzig wischte sie die Tränen fort, die sich ungewollt aus ihren Augen stahlen. Sie war sich so sicher gewesen und so entspannt wie noch nie, warum hatte es wieder nicht geklappt? Würde es das jemals oder musste sie sich mit dem Gedanken abfinden, für den Rest ihres Lebens auf Sex zu verzichten? Und warum hatte David sich so seltsam verhalten? Unbeeindruckt, fast schon gleichgültig angesichts ihres Ausbruchs.
Sie horchte in sich hinein. Die Verbundenheit, die sie ihm gegenüber empfunden hatte, war noch immer da und auch die Verliebtheit. War das kitschig? Vielleicht. Dumm und naiv? Ganz sicher. Ein Schluchzen quoll aus ihrer Kehle. Sie wollte nicht weinen. Wer weinte, zeigte Schwäche, sagte ihre Mutter immer und sie hatte recht. Warum sollte sie heulen wegen etwas, das sie nicht ändern konnte?
Ihr Blick glitt durch die saubere Küche. Kein Fleck, kein Fussel, kein benutztes Glas, keine geöffnete Kekspackung oder eine verfärbte Banane. Nichts. Andere Familien kochten und aßen gemeinsam, lebten in Räumen, die bewohnt wirkten und nicht wie ein Ausstellungsstück. War es nicht zutiefst abnormal, dass ihre Mutter seit Tagen verschwunden war und die Haushälterin sich mehr darum scherte als ihre einzige Tochter? War sie vielleicht eines dieser gefühlskalten Kinder reicher Eltern, die alles hatten und nichts davon zu schätzen wussten?
Schluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht, ergab sich ihren Tränen. Der Wasserkocher blubberte vor sich hin, heißer Dampf entwich aus der schnabelförmigen Öffnung im Deckel. Als er sich ausschaltete, wischte sie mit dem Handrücken die Tränen fort und goss den Tee auf. Sie sehnte sich nach ihrem Bett, wollte sich darin vergraben und nie wieder aufstehen.
Vorsichtig balancierte sie die Tasse auf der Hand und verfluchte zum unzähligsten Mal dieses pseudomoderne Ding, das sich Treppe nannte. Immer noch besser die Wendeltreppe als David oder ihre Mutter zu verfluchen, obwohl die beiden es wohl eher verdient hätten. Oben angekommen tapste sie den dunklen Flur entlang. Durch einen Spalt unter der Schlafzimmertür ihrer Mutter drang Licht. Doreé hielt überrascht inne. War ihre Mutter endlich zurückgekehrt? Aufgeregt stellte sie die Tasse auf den Boden neben der Tür, legte ihren Kopf an das Holz und lauschte. Eine Bewegung, das Rascheln von Stoff. Im ersten Augenblick wollte sie klopfen, überlegte es sich jedoch anders. Ein kalter Schauer rieselte ihren Rücken hinab, begleitet von einer dunklen Ahnung. Da drin war nicht ihre Mutter.
Zaghaft umfasste sie die Türklinke, drückte sie leise nach unten und öffnete die Tür einen Spalt breit. Warme, stickige Luft wallte ihr entgegen. Ophelia hockte nackt inmitten zahlloser, brennender Kerzen vor dem begehbaren Kleiderschrank und malte mit ihren Fingern rote Zeichen auf das Parkett. Ihre Lippen bewegten sich, doch kein Laut drang hervor. Und als wäre dieser Anblick nicht schon verstörend genug, war ihr verkrümmter Körper fast flächendeckend mit roter Farbe bemalt, zumindest hoffte Doreé, dass es sich um Farbe handelte. Der Schädel war kahl, die Haut gerötet und mit blutigen Wunden und Kratzern bedeckt. Ophelia musste sich die wenigen Haare ausgerissen haben. Entsetzt schlug Doreé die Hand vor den Mund und wich zurück. Was zur Hölle ging hier vor?
Ihr Fluchtinstinkt rang mit dem Drang, die Gründe für Ophelias Tun zu erfahren. Sie stand ganz still, zählte die Herzschläge und überlegte. Gedanken irrten durch ihren Kopf, begleitet von Bildern, die kurz aufblitzten und sofort wieder vergingen. Das Verschwinden ihrer Mutter. Die Frau am See. David. Ophelias seltsames Verhalten.
Nichts ergab mehr einen Sinn.
Sie trat zurück, versuchte, mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Mit der Ferse stieß sie gegen einen Widerstand. Die Tasse klirrte. Heißer Tee ergoss sich über ihren Fuß.
»Aaaaah!« Zischend sog Doreé die Luft zwischen die zusammengebissenen Zähne.
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