ESCORTER (German Edition)
sehnlicher, als dass irgendjemand sie in den Arm nahm und tröstete, ihr versicherte, dass alles gut werden würde. Warum sie dabei gerade an David dachte, der sie wenige Stunden zuvor aus seiner Wohnung geworfen hatte, verstand sie nicht. Vielleicht weil er als Einziger nicht tot, verschwunden oder verreist war.
Sie warf einen weiteren Blick aus dem Fenster und spähte zur Haustür. Da stand Ophelia, wie die Gruselversion eines aufdringlichen Vertreters, dem der Einlass verwehrt wurde. Doreé überlegte. Ophelia war klein und alt. Könnte sie ihr wirklich gefährlich werden? Würde sie?
Sie kannte die Haushälterin ihr ganzes Leben lang. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte Ophelia ihr oft die Mutter ersetzt, sie getröstet in ihrer eigenen, unbeholfenen Art. Tief sog Doreé den Atem ein, schloss die Augen und sammelte ihren Mut. Entschlossen schob sie den Sessel zur Seite und öffnete die Tür. Keine Ophelia, nur halbdunkle Stille. Dicht an die Wand gedrängt, schlich Doreé den Flur entlang. Das Messer rutschte in ihrer feuchten Handfläche herum. Die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter stand offen. Die Kerzen waren gelöscht. Ein ekelhafter Geruch entströmte dem Raum, faulig und beißend. Schnell huschte Doreé an der Tür vorbei und die Treppe hinab. Dort hielt sie inne und sah sich um. Der offene Wohnbereich lag verlassen da, die Straßenlaternen brannten noch. Ihr kaltes Licht spiegelte sich in den glänzenden Lackoberflächen der Möbel. Zaghaft schlich sie Richtung Flur, behielt dabei den Wohnbereich und den Eingang zur Küche im Blick. Dann drehte sie sich um und zuckte vor Schreck zusammen. Ophelia war nicht ins Haus zurückgekehrt, aber sie stand noch immer vor der Tür. Nackt, rot und kahl. Einen spitzen Schrei ausstoßend wich Doreé zurück. »Du sollst doch verschwinden, hab‘ ich gesagt.«
Ophelia streckte die Arme aus, eine hilflose Geste. »Doriie. Lass mich rein.«
Die Tür stand auf. Was hinderte sie daran? »Nein. Hau ab!«
Doch weder ging Ophelia fort noch machte sie Anstalten, das Haus zu betreten. Sie stand einfach nur da und blickte sie flehend an. Das Messer vor sich haltend schob sich Doreé den Flur entlang, ließ Ophelia nicht aus den Augen, bis sie zur Garderobe gelangte. Langsam ging sie in die Knie, schnappte ihre Tasche und tastete sich eilig rückwärts Richtung Wohnzimmer. Neben dem Sofa hielt sie inne, warf die Tasche auf den Beistelltisch und fingerte nach dem Handy, Ophelia fest im Blick. Mit dem Daumen strich sie über das Display, warf nur flüchtige Blicke darauf, bis sie Davids Nummer gefunden hatte. Sie drückte auf Wählen.
Es klingelte. Bitte geh ran , flehte sie stumm.
»Doreé?« Obwohl es früher Morgen war, wirkte David hellwach.
Doreé schluckte schwer. »David.«
»Ja? Was ist?« Täuschte sie sich oder klang er alarmiert?
»Könntest du bitte schnell herkommen? Es ist was passiert.«
Sie hatte erwartet, dass er Fragen stellen würde, doch alles, was er sagte, war: »Bist du in Gefahr?«
»Ich weiß nicht, vielleicht.«
Er rührte sich. Ein Rascheln erklang, gefolgt von einem Knarzen. Zog er sich an? »Bist du allein?«
Wieso fragte er das? »N … nein, doch, nicht wirklich.«
»Okay, lass niemanden ins Haus, versteck dich wenn nötig, ich bin gleich bei dir«, sagte er und legte auf.
Ophelia streckte die Arme in ihre Richtung. »Warum hast du das getan? Nich diesa Junge. Nich er.«
»Warum? Was ist so falsch an ihm?« Herausfordernd fuchtelte Doreé mit dem Messer herum.
Ophelia runzelte die Stirn. Ihr Gesicht verzog sich vor Anstrengung. Keuchende Laute drangen aus ihrem Mund.
»Ich … ich kann nich sage«, stieß sie schließlich hervor.
»Warum nicht?«
»Herrin hat es verbote.«
In diesem Augenblick fiel es Doreé wie Schuppen von den Augen. Ihre Mutter, Ophelia und wahrscheinlich auch David verheimlichten etwas vor ihr. Nichts von dem, was in den letzten Tagen geschehen war, war zufällig geschehen. Alles folgte einem Plan. Nur welchem? Welches Geheimnis hüteten sie? Und warum wussten alle Bescheid außer ihr?
»Ophelia«, sagte Doreé streng.
Die Haushälterin senkte demütig den Kopf. »Ja?«
»Was ist hier los? Sag es mir!«
Ophelia breitete die Arme aus, eine Geste der Hilflosigkeit. Ein lautes Krachen drang von oben zu ihnen hinab. Ruckartig hob Ophelia den Kopf. Panik flackerte in ihrem Blick.
»Oh je«, jammerte sie. »Oh je. Herrin wird mich strafe.« Doreé sah zur Treppe. Wieder das Krachen gefolgt von einem
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