Esel
sie mir auch den Schmerz nehmen, wenn Markus zum Äußersten greift, wenn er mir weh tut. Und er wird mir weh tun, das sieht man.
Bimmel. Bimmel. Bim–
Endlich ist es mir gelungen, das Handy zum Schweigen zu bringen. Erleichtert atme ich aus, und Sabine nimmt auch endlich ihre Hand von meinem Arm.
Markus lehnt sich zurück. »Noch einmal, dann ist aber …«
Was auch immer, ich will es gar nicht wissen. Eigentlich möchte ich jetzt aufstehen, aus der Hütte marschieren, Friedhelm losbinden und im Dauerlauf nach Plötzen. Aber ich glaube, dass das kein guter Plan ist. Markus würde ihn falsch verstehen. Und ich möchte nichts tun, was dieser Mensch falsch verstehen könnte.
Ich hätte Karin so viel zu erzählen gehabt. In den letzten Stunden ist mehr passiert als in einem ganzen Schuljahr. Ganz vergessen, ich bin Lehrer. Ich bin es gewohnt, Situationen zu bestimmen, aushalten müssen sie andere. Aber diesmal bin ich derjenige, der sitzen bleiben muss. Ich kommuniziere diesen Gedanken besser nicht laut, denn ich fürchte, mit dem Sitzenbleiben kennt sich Markus aus. Er wird die entsprechende Sozialisation haben, die aus ihm einen Mörder gemacht hat. Wen er wohl umgebracht hat? Seine Freundin, einen Freund, seine Mutter? Oder … seinen Lehrer? Ich schweige. Selbst Sabine schweigt, und das will was heißen. Leider kann man nicht mit dem Denken aufhören, nur weil man schweigt. Im Gegenteil, wenn man nichts sagt, denkt man noch viel mehr. Ich möchte nicht, dass Markus seinen Lehrer umgebracht hat. Vielleicht gibt es Gründe, seinen Lehrer umzubringen, aber doch nur theoretisch. Praktisch macht das keinen Sinn. Für das eigene Versagen sind nicht die Lehrer verantwortlich, sondern … ich muss den Gedanken nicht zu Ende bringen, denn Markus beugt sich wieder vor.
»So, so«, sagt Markus.
»Ja«, sage ich.
»Mmh«, fügt Sabine hinzu.
MAILVERKEHR
Hallo Björn,
habe versucht, dich anzurufen, hast aber nicht abgenommen. Hast du was?
Karin
Gesendet vom Handy – 15:34 Uhr
• • •
Wenn es wegen der Waschmaschine ist, dann kann ich mir denken, was du denkst.
K.
Gesendet vom Handy – 15:45 Uhr
• • •
Kein Netz?
K.
Gesendet vom Handy – 16:02 Uhr
• • •
Verstehe, beleidigt, oder?
Gesendet vom Handy – 16:39 Uhr
• • •
Dann eben nicht. Bin jetzt weg.
Gesendet vom Handy – 22:47 Uhr
20. Tödliche Versprechen
Es ist mitten in der Nacht, um diese Zeit schlafe ich normalerweise, selbst in den Ferien. Karin hasst mich dafür, aber ich brauche meinen Schlaf, in den Ferien und sonst auch. Es ist jetzt weit nach 23 Uhr.
Die Uckermark hat sich entschlossen, auch in der Nacht nicht auf eine flächendeckende Bewässerung zu verzichten. Warum es hier so viele Seen gibt, verstehe ich mehr denn je. Was ich nicht verstehe, ist: Karin! Sie ist weg. Ich habe es gerade gelesen. Weg!
Ich verlange ja nicht von ihr, dass sie jetzt schläft, was ihr, nebenbei bemerkt, guttun würde, aber sie ist einfach weg.
Wohin? Warum? Allein?
Um diese Zeit muss man nicht weg sein, es sei denn, man ist Nachtschaffner in einem Zug nach Lissabon oder Bedienung in einer Hotelbar. Karin ist freiberufliche Übersetzerin. Sie muss nicht weg. Und wenn, dann tagsüber. Jetzt könnte sie noch was lesen, mit einer Freundin auf dem Balkon ein Glas Wein trinken, wenn es nicht gerade Gabi ist. Sie könnte Eier bemalen, wenn sie wollte. Was weiß ich – aber weg?
Weg! Weg! Weg!
Sabine und ich sitzen noch immer auf den Strohballen. In meinem Kopf wechselt ein unaufhörliches Gedankenpingpong von einer Gehirnhälfte zur anderen. Warum zum Teufel kann Karin sich nicht denken, dass es einen sehr triftigen Grund für mich geben muss, wenn ich nicht zurückrufe. Der Grund heißt noch immer Markus und ist nach draußen gegangen, um diesem Albtraumregen einen natürlichen Wasserfluss entgegenzustellen.
Markus muss oft raus. Vielleicht hat er sich erkältet, die Nieren verkühlt? Oder es ist was Chronisches. Aus Hafttagen. Da soll man sich ja so einiges holen, sagt man, hört man, liest man. Was auch immer Markus hat, ich finde es gut, so kann ich wenigstens meine Mails checken, was meine Laune nicht verbessert und die Sorgen nicht kleiner macht. Im Gegenteil. Ich darf nur nicht den Klingelton wieder zum Leben erwecken.
»Meinste nicht, wir sollten einfach gehen?«, flüstert Sabine.
»Bitte, nach dir.«
Sabine überlegt, bleibt aber sitzen. Ich habe nichts anderes
Weitere Kostenlose Bücher