Eselsmilch
Abstieg, dass sich
der Kutscher von Martha und Fanni dazu überreden ließ, erst einmal uns zu
fahren. Wer sollte denn ahnen …«
Toni
rieb sich die Stirn, dann sprach er müde weiter: »Niemand konnte ahnen, dass
die Kutsche, die Horns Gruppe später aufnahm, während der Fahrt umstürzen und
Horns Schwester unter sich begraben würde.« Er machte zwei tiefe Atemzüge.
»Horn muss damals komplett durchgedreht sein. Offenbar hat er Himmel und Hölle
in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, wer ihnen das bestellte Gefährt, das
sicher in Pontresina angekommen war, weggeschnappt hatte. Zuerst hat er wohl
die Kutscher ausgefragt, später muss er noch mal zur Hütte hinaufgegangen sein,
um auch dort herumzuhorchen und im Hüttenbuch nachzusehen. So kam er
schließlich an Willis Adresse.«
Erneut
atmete Toni durch, bevor er weiterredete: »Und dann hat Dieter Horn diesen
Brief geschrieben, voll von Anklagen, Vorwürfen, Drohungen. Erst dadurch haben
wir erfahren, was geschehen war. Martha hat sich natürlich sofort schuldig
gefühlt, und wir mussten ewig auf sie einreden, bis sie sich wieder einigermaßen
beruhigt hatte. Das wollten wir uns bei Fanni ersparen, deshalb haben wir ihr
nie davon erzählt.« Toni streckte die Hand nach seinem Weinglas aus. »Ein paar
Tage später haben sich Willi und Martha hingesetzt und den Brief so
verständnisvoll wie möglich beantwortet. Daraufhin haben wir nie wieder von
Horn gehört.«
Er
schüttete ein halbes Glas Wein in sich hinein und fügte fast entschuldigend
hinzu: »Nur in diesem Brief kam mir Horns Name jemals unter. Keiner von uns
kannte ihn. Wie hätte mein Gedächtnis den Namen verfügbar speichern können?«
Leni
saß schon eine Weile wie erstarrt da und schaute Toni mit großen Augen an. Erst
als ihr Günther die Hand auf den Arm legte und sagte: »Wir müssen deine Mutter
warnen«, kam Bewegung in sie.
Sie
kramte nach ihrem Handy, scrollte zum Namen ihrer Mutter und drückte die Taste.
Während
sie auf die Verbindung wartete, sagte Toni: »Ich weiß nicht recht, vielleicht
machen wir ja auch bloß die Pferde scheu. Dieser Dieter Horn, der in Fannis
Gruppe mitreist, muss doch nicht unbedingt derselbe sein, der uns damals
gedroht hat. Und selbst wenn. Er hat Martha und Fanni nie gesehen, wie sollte
er sie erkennen?«
»Meinst
du nicht, dass er ebenfalls eine Teilnehmerliste hatte?«, antwortete Günther.
»Und dass sich die Reisegefährten bald miteinander bekannt gemacht haben?
Bestimmt haben sie auch das eine oder andere von sich erzählt. Da bedurfte es
wohl nicht mehr vieler Fragen, um herauszukriegen, ob es sich bei Martha und Fanni
um die beiden Frauen handelt, die Horns Auffassung nach seine Schwester in den
Tod geschickt haben.«
Es
war ein paar Augenblicke still, dann erwiderte Toni sichtlich verwirrt: »Horn
hört also Marthas Namen …« Er unterbrach sich. »Nein, er wusste ihn ja
schon. Und dann lernt er sie und Fanni kennen. Hat er erst da …? Oder hat
er die Reise schon mit dem Vorsatz angetreten …?« Er verstummte.
»Martha
hat sich anscheinend ebenso wenig an Horns Namen erinnert wie du«, sagte
Günther nachdenklich, »sonst hätte sie mit dir darüber gesprochen.«
Toni
stimmte ihm zu. »Solche Teilnehmerlisten überfliegt man ja normalerweise auch
bloß, die studiert man nicht wie eine Gebrauchsanweisung. Aber vielleicht ist
später irgendwann der Groschen bei ihr gefallen, unterwegs, als der Name öfter
auftauchte.«
»Meinst
du, Martha hätte Horn auf damals angesprochen, wenn sie sich plötzlich erinnert
hätte?«, fragte Günther.
»Ich
denke schon«, antwortete Toni.
»Vielleicht
kam es zum Streit«, spekulierte Günther. »Horn hat sich in Rage geredet, hat
Martha gestoßen, sie ist gestolpert und vor den fahrenden Bus gestürzt.«
»Ich
möchte fast hoffen, dass es sich so abgespielt hat«, sagte Toni darauf. »Denn
dann wäre Fanni nicht in Gefahr.«
Leni
hatte ihr Handy schon vor einigen Sekunden auf dem Tisch abgelegt.
»Keine
Verbindung?«, fragte Toni.
Leni
schüttelte den Kopf. »Sie sind wohl noch in den Bergen.« Sie warf einen Blick
auf ihre Armbanduhr, die Samstag, den 15. Oktober, zweiundzwanzig Uhr
anzeigte.
13
Leni
hatte recht.
Fanni
und Sprudel befanden sich noch immer in der Gîte in dem kleinen Ort Aroumd
mitten im Hohen Atlas. Am folgenden Morgen würden sie zu ihrem Zeltcamp unterhalb
der Neltner-Hütte aufsteigen, von wo aus tags darauf noch tausend Höhenmeter
zum Gipfel des Toubkal zu bewältigen
Weitere Kostenlose Bücher