Eselsmilch
versucht
herauszufinden, ob einer von ihnen Martha auf dem Gewissen hat.«
»Aber
weil das gar nicht so einfach ist«, mutmaßte Toni, »weil Fanni, außer die
Verdächtigen zu belauern, nicht viel tun kann, hat sie ihre Tochter um
Unterstützung gebeten, richtig? Und wie kann ich dabei helfen?«
Leni
sah Günther zu, wie er drei Gläser aus einer Vitrine nahm und sich daran
machte, Rotwein einzuschenken. Nachdem er ein volles Glas vor sie hingestellt
hatte, sagte sie an Toni gewandt: »Ich möchte dich bitten, nachzusehen, ob du
einen der Namen auf dieser Liste hier kennst.« Sie reichte ihm das Blatt, auf
dem sie die Reiseteilnehmer aufgeschrieben hatte.
Daraufhin
lümmelte Toni eine ganze Weile auf dem Sofa und studierte die Liste. Hie und da
murmelte er einen der Namen vor sich hin.
Leni
und Günther tranken ihren Wein, wechselten ab und zu ein paar Worte.
Fast
eine halbe Stunde verging, bis Toni die Liste auf den Tisch warf und nach
seinem Weinglas griff. »Nichts, keiner der Namen löst das erhoffte Klingeln in
meinem Kopf aus. Was nicht viel heißen muss, denn von einigen Frauen haben wir
ja nur den Namen, den sie durch Heirat erworben haben.«
Günther
hatte das Blatt an sich genommen und las halblaut die Vornamen der
verheirateten Frauen. Dann fragte er Toni: »Dora, Antje, Wiebke, Melanie.
Sagen dir diese Vornamen denn gar nichts? So häufig sind sie ja auch wieder
nicht. An eine Dora würdest du dich doch erinnern, oder?«
»Tu
ich aber nicht«, brummte Toni und leerte sein Glas. Günther schenkte ihm nach.
Leni
räusperte sich. »Du könntest versuchen, deine Erinnerung auf einzelne Bereiche
zu fokussieren: Verwandtschaft, Geschäft, Freizeit.«
Günther
nickte eifrig und drückte Toni die Liste wieder in die Hand.
»Freizeit«,
maulte Toni. »Ich weiß doch nicht über den gesamten Bekanntenkreis von Martha
Bescheid.«
»So
weit es sich dabei um Bergsteiger handelt, wohl schon«, entgegnete Leni. »Denk
zurück, denk weit zurück. Wenn heute ein Mord geschieht, muss der Anstoß dafür
ja nicht erst gestern erfolgt sein.«
Toni
seufzte theatralisch, wandte sich aber erneut der Liste zu.
Leni
meinte beinahe zu sehen, wie in seinem Kopf Bilder auftauchten; Szenen, die
sich während vertrackter Klettereien abgespielt hatten, auf eisblanken
Gletschern, auf schmalen Graten.
»Glaubt
mir«, sagte er nach langer Zeit, »Martha hat bei Bergtouren nie jemanden
gefährdet. Sie hat meines Wissens keine Steine losgetreten, durch die jemand zu
Schaden gekommen wäre. Sie hat keine Hilfeleistung verweigert. Sie hat
niemanden in die Irre gef…« Er brach plötzlich ab.
Leni
und Günther sahen ihn gespannt an.
»Dieter
Horn«, flüsterte Toni. Er war blass geworden. Es dauerte einige Augenblicke,
bis er weitersprechen konnte. »Dieter Horn hat in den Neunzigern durch einen
Unfall seine Schwester verloren. Er gab Martha und Fanni die Schuld dafür.«
»Und
da hast du dich nicht eher an seinen Namen erinnert?«, fragte Günther
verblüfft.
Toni
sah ihn zerknirscht an. »Das liegt vermutlich daran, dass ich kein Gesicht zu
dem Namen habe.«
In
das aufkommende Schweigen hinein sagte Leni: »Du hast also Dieter Horn nie
persönlich kennenge…«
»Keiner
von uns«, fiel ihr Toni ins Wort.
»Aber«,
begann Leni, doch Toni unterbrach sie erneut:
»Lasst
mich die Geschichte einfach erzählen: Es war, wie gesagt, in den Neunzigern.
Wir hatten von der Tschierva-Hütte aus den Morteratsch bestiegen und waren auf
dem Rückweg nach Pontresina. Dieser Abstieg zieht sich ewig hin. Denn obwohl
man die Talsohle schon nach etwa zwei Stunden erreicht, muss man noch viele
Kilometer auf relativ flachem Gelände zurücklegen, bis man zum Parkplatz am
Ortsrand kommt. Damals – und wahrscheinlich wird das auch heute noch so
sein – konnte man für diese letzte, recht ermüdende Etappe für fünf
Franken einen Platz auf einer der Pferdekutschen bekommen, die dort Touristen
hin- und herbefördern.«
Toni
trank einen Schluck Wein, bevor er fortfuhr: »An jenem Nachmittag gab es
geradezu einen Run auf die Kutschen. Wenn uns Martha und Fanni nicht ein Stück
voraus gewesen wären, hätten wir mindestens eine Stunde auf so ein Gefährt
warten müssen. Den beiden aber gelang es, für unsere Gruppe diejenige Kutsche
zu requirieren, die eigentlich für Dieter Horn, seine Schwester und deren
Freunde reserviert gewesen war. Er und seine Leute befanden sich – mit dem
Feldstecher deutlich erkennbar – noch so weit oben im
Weitere Kostenlose Bücher