Eskandar: Roman (German Edition)
eigentlich recht gibt, sagt Eskandar-Agha, bitte, Khanum, seien Sie nicht so streng.
Ich habe mir längst einen dieser langen Mäntel aus unserem Laden zurückgelegt, habe genau gewusst, wie ich mein Tuch wickeln würde, und ich habe mich gefreut auf den ersten Tag des neuen Jahres, an dem ich als erste Frau in meiner Familie zum ersten Mal ohne Schleier meinen Fuß auf die Straße setzen würde.
Khanum, bitte, Sie brechen mir das Herz.
Nach dieser Erniedrigung gibt es nichts und niemanden, der mich dazu bringen kann, es zu tun.
Immerhin kann Eskandar-Agha seine Frau überreden, weiterhin in den Basar und in den Laden zu kommen. Allerdings tut sie es nur, wenn er ihr eine geschlossene Droschke bezahlt, damit sie ihren Schleier tragen kann, ohne Gefahr zu laufen, abermals von der Polizei angehalten zu werden. Ich sollte wie in alten Zeiten mein Gesichtstuch wieder tragen, sagt sie.
Das ist mir auch schon passiert, schimpft die Frau, die im selben Hof in einem der Nachbarzimmer lebt. Seit sie mir den Schleier vom Kopf gerissen haben, gehe ich zweimal die Woche in die Moschee, wo ich andere Frauen treffe, denen das gleiche Schicksal widerfahren ist, und wir arbeiten mit den Mullah zusammen. Wir alle sind gegen den König und seine Fortschritte. Kommen Sie mit, sagt die Nachbarin zu Aftab-Khanum. Wir kochen während des gesamten Fastenmonats Essen und geben es nach Sonnenuntergang an die Gläubigen, die an den Prozessionen teilnehmen, aus.
Aftab-Khanoum findet es wunderbar, wie die Jungen und Männer, auf Eseln reitend, die Familie des verehrten Emam-Hossein darstellen und daran erinnern, dass er zusammen mit 72 Angehörigen den Märtyrertod gestorben ist. Es ist beeindruckend, wie hunderte und tausende Jungen und Männer durch die Straßen ziehen und sich selbst kasteien, sich mit Ketten auf Rücken und Schultern schlagen, bis sie bluten. Sie rufen den Namen des Propheten mit Inbrunst und würden ihr Leben für ihn geben, schwärmt Aftab-Khanum und regt damit ihren Eskandar-Agah auf.
Khanum, es ist absurd, sich selbst zu kasteien, und zum anderen ist es ein paar Jahrhunderte zu spät, es zu tun. Damals hätten die Gläubigen dem Ruf des armen Emam-Hossein folgen und ihn in seinem heiligen Krieg gegen den Verräter Yazid begleiten sollen. Es ist höchste Zeit, dass wir uns damit abfinden, dass unsere Vorfahren den armen Emam im Stich gelassen haben und er entschieden hat, trotzdem und nur mit einer Handvoll Kinder und Frauen in den Krieg zu ziehen. Gott sei es gelobt, gibt es heute weder den Emam noch eine Schlacht.
Sie beleidigen die heilige Religion, sagt Aftab-Khanum.
Sie irren sich, antwortet Eskandar-Agha. Welchen Sinn hat es, mit zerrissenem Hemd und blutüberströmt durch die Straßen zu gehen? Sie und ich haben den Koran lange genug studiert, um zu wissen, dass derartiges Verhalten mit dem wahren Islam nichts zu tun hat. Nirgendwo hat der gelobte heilige Prophet Selbstkasteiung vorgeschrieben.
Sie sagen das nur, um mir zu widersprechen, sagt Aftab-Khanum.
Eskandar-Agha sieht seiner Frau an, dass sie ihm recht gibt, kann sich darüber aber nicht freuen, denn er fühlt sich genauso niedergeschlagen wie sie.
Es gibt Schlachten, notiert er, aus denen geht niemand als Gewinner hervor.
Fortan lässt Aftab-Khanum keine Gelegenheit aus, den König, seine Gesetze, seine Polizei und seine Ideen von Modernisierung zu verdammen. Und zusammen mit ihm verflucht sie alle Farangi; Atatürk, das Oberhaupt der Türkei, das mit seinem neuen Konstantinopel schuld daran ist, dass Resa-Khan überhaupt erst auf diese obskuren Gedanken, die er modern und fortschrittlich nennt, kommen konnte. Und als sie erfährt, dass auch der König der Afghanen Frauen verbietet, in die Universität, in öffentliche Ämter und Ministerien zu gehen, wenn sie verschleiert sind, verflucht sie auch ihn.
Alles, was unser verehrter König will, ist, unser Land dorthin zu bringen, wo der Rest der Welt, der Westen mit seinen Erfolgen längst ist, versucht Eskandar-Agha seine Frau zu besänftigen.
Was haben Schleier und ein anständiges Hejab mit Fortschritt zu tun?, schimpft Aftab-Khanum. Wollen Sie sagen, ein Stück Stoff kann uns daran hindern, in die Zukunft zu gehen? Nein, Agha. Es kann kein gutes Ende nehmen, wenn ein König sein Volk mit Gewalt irgendwohin treiben lässt, sei es in die Zukunft oder in die Vergangenheit.
Sie wird sich wieder beruhigen, schreibt Eskandar-Agha in seine Notizen. Zeit heilt Wunden.
Viele denken wie ich,
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