Eskandar: Roman (German Edition)
Zeitung. 180 Lokomotiven, 5175 Güterwagen, fünfeinhalb Millionen Tonnen Güter werden über den Iran in die Sowjetunion gefahren, beinah die Hälfte aller Lieferungen kommen aus den USA und Kanada.
Und was haben 180 Lokomotiven damit zu tun, dass ich selbst entscheiden will, ob ich einen Schleier trage oder nicht?
Genau darum geht es, antwortet Eskandar-Agha. Wissen Sie noch: Und wir lassen es geschehen. Warum lassen wir es geschehen? Weil wir keine Bildung haben, weil die Mehrheit der Menschen in unserem Land nicht einmal weiß, dass die Farangi kein Recht haben, unser Land zu plündern. Und damit sie sich immer weiter ungehindert in unserem Land bedienen können, müssen die Alliierten jede Entwicklung und Fortschritt aufhalten, und damit sind sie gegen den König und seine Pläne. Eskandar-Agha hält inne, dann fragt er, und was wollen Ihre Freunde, die Mullah?
Aftab-Khanum sieht auf ihre Hände in ihrem Schoß. Aber wir können doch Fortschritt haben und trotzdem unsere Schleier tragen, sagt sie kleinlaut. Dann sagt sie: Der König erlaubt nur noch Huren, einen Schleier zu tragen.
Khanum, bitte, reden Sie nicht so.
Er zwingt uns statt unserer wunderbaren Ta-zieh-Prozessionen den Karneval auf, und in den Kinohäusern sieht man Farangi-Frauen, die nackt sind und Männer küssen und sich im Liebesspiel zeigen.
Khanum, es ist mir peinlich, wenn Sie diese Dinge sagen.
Aber es gibt diese Dinge, und sie verschwinden nicht, wenn wir darüber schweigen. Für mich ist mein schwarzer Schleier ein Symbol meiner Selbstständigkeit geworden. Ein Zeichen meines freien Willens und meiner Stärke.
Während Aftab-Khanum weiter in die Moschee und in die Suppenküche geht, hütet Eskandar-Agha den Laden und fühlt sich einsam. Bis eines Tages ein Mann zu ihm kommt und ihm einen großen Schreibauftrag erteilt.
Es sind Kaufverträge für Grundstücke und Häuser, erklärt er, ich brauche eine Zweitschrift für das Amt für Registrierungen.
Sobald Eskandar-Agha die Dokumente in Händen hält, springt ihm ein Name ins Auge: Frau-Mahrokh.
Ausgerechnet jetzt, murmelt er und muss sich hinhocken, weil er weiche Knie bekommt. Erst als es so dunkel ist, dass Eskandar kaum noch etwas sehen kann, merkt er, wie viel Zeit verstrichen ist. Er schließt die Holzläden und beeilt sich, nach Hause zu kommen.
Sie sind der einzige Mann, der an nichts und niemanden glaubt, sagt Aftab-Khanum enttäuscht, als er abgehetzt ins Zimmer kommt. Ein Mann braucht eine Passion, eine Idee, höhere Werte, sagt sie.
Höhere Werte als das Leben und die Liebe? Wie viele Frauen, die Sie kennen, werden von ihren Männern geliebt und geachtet?
Ich bin müde, sagt Aftab-Khanum leise und enttäuscht.
Habe ich Ihnen schon mal erzählt, dass alles einen Geschmack hat?, fragt Eskandar-Agha. Nicht nur Essen, auch der Hunger hat einen Geschmack, Steine haben einen Geschmack, sogar der Wind hat einen Geschmack.
Hören Sie auf, theatralisch zu sein, bittet Aftab-Khanum unter Tränen.
Der Geschmack des Windes ist trocken, sagt Eskandar-Agha. Und er trägt Sand mit sich, der sich auf die Zunge legt und zwischen den Zähnen knirscht. Im Norden unserer Heimat trägt der Wind den Geschmack von Salz mit sich. Am schwersten schmeckt der Wind dort, wo ich in diese Welt gekommen bin, er ist getränkt mit dem Geschmack von Schwefel und Naft. Manchmal ist der Wind so heiß und schwer, dass er einem die Luft zum Atmen raubt. Als ich ein kleiner Junge war und meine Mutter gestorben ist, hat der Wind nach Wut geschmeckt, nach Trauer und Verzweiflung. Aber ich habe nicht aufgegeben. Ich bin ein Kind gewesen, allein und hilflos, und ich habe an Wunder geglaubt. Was ich Ihnen damit sagen will, meine Liebe, ist: Das Leben selbst ist der höchste Wert, an den ich glaube.
1941, Eskandar-Agha will seine alte Aftab-Khanum zurück
Auch unsere Heimat wird wieder erschüttert von der Politik der Farangi. Wir haben es kommen sehen: Die Engelissi und Russi schicken noch mehr Soldaten in den Iran. Dieses Mal besetzen sie sogar die Hauptstadt und bringen noch mehr Kriegsmaterial. Zur Allianz gegen die Almani gehören auch die reichen Amrikai. Neben Geld, Kriegsgerät, Soldaten schicken sie eigene Agenten, und sie bezahlen iranische Spitzel und bestechen Abgeordnete.
Iraner, Menschen, die von dieser Heimat sind, verkaufen ihr eigenes Land und ihre eigenen Brüder und Schwestern. Sie lassen sich korrumpieren und manipulieren und werden zu Handlangern der Farangi und
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