Eskandar: Roman (German Edition)
Kreuzungen, das Getrampel der Polizeipferde machen Eskandar-Agha so viel Angst, dass er sein Vorhaben am liebsten vergessen und gleich wieder umkehren würde.
An Chaos, Unterdrückung und den Tod von Lieben wird man sich nie gewöhnen können, schreibt er in seinen kleinen Notizblock. Und dann bekommt er mit, was der Mann, der in der Reihe vor ihm sitzt, zu seinem Nachbarn sagt, und weil es klingt, als wäre es ihm höchstpersönlich zugedacht, und weil es ihm gefällt, notiert Eskandar-Agha auch das: Wir Iraner sind ein merkwürdiges Volk geworden, je mehr wir weinen, desto besser fühlen wir uns. Wir finden Gefallen am Leid, haben Lust am Verlust und fühlen uns lebendig, wenn der Tod in unserer Nähe ist.
Sie sind verwöhnt vom Leben im reichen Norden der Stadt, erklärt Hossein-Agha und versucht wie immer, seinen alten Nachbarn aufzumuntern. Ich werde Sie begleiten. Dann müssen Sie Ihre Kiste nicht allein schleppen, und ich komme in den Genuss, mit einem dieser neuen doppelstöckigen Busse zu fahren, und ich werde endlich einen Ausflug in den Norden der Stadt machen, schlägt Hossein-Agha vor. Die frische Luft wird mir sicher auch guttun.
Allerdings kommen sie nicht einmal bis zur Bushaltestelle in der Hauptstraße, überall wimmelt es von bewaffneter Polizei, Soldaten und Geheimagenten Seiner Majestät des Königs, die wahllos auf Passanten einschla gen, bis sie blutüberströmt davonlaufen oder auf der Straße liegen bleiben. Weder mit dem Fahrrad noch mit der Droschke und schon gar nicht mit einem Automobil oder einem Autobus kommt man voran.
Noch bevor Eskandar-Agha und Hossein überlegen, wohin sie flüchten können, um den mörderischen Straßenschlachten zu entkommen, werden sie getrennt und verlieren sich aus den Augen. Nur mit Mühe kann Eskandar-Agha seine Kiste schleppen. Vor ihm taumelt eine Frau, die sich den blutigen Kopf hält. Neben ihm schreit ein Mann, der eine Schusswunde im Bein hat. Eskandar-Agha hebt seine Kiste an, hört hinter sich eilige Schritte, dreht sich herum und sieht einen Soldaten, der auf ihn zuhastet. Der Junge fuchtelt mit seinem Gewehr herum und starrt Eskandar-Agha aus weit aufgerissenen Augen ängstlich an. Was hast du in der Kiste?, schreit er.
Eskandar-Agha stellt sofort die Kiste ab, hebt die Hände und sieht den Soldaten einfach nur an.
Was hast du in der Kiste?, schreit er, spannt sein Gewehr und richtet es erneut auf Eskandar-Agha.
Bruder, fragt Eskandar-Agha, was willst du tun? Mich töten? Welchen Nutzen hätte das für dich? Mach dich nicht unglücklich. Ich sehe dir an, du hast noch nie einen Menschen getötet.
Natürlich habe ich noch niemanden getötet, sagt der junge Soldat. Ich bin doch kein Mörder.
Aber genau das ist deine Aufgabe. Zu töten.
Ja, Agha, antwortet der Soldat.
Siehst du, sagt Eskandar-Agha und wundert sich, wie ruhig er ist. Wenn du schon einmal jemanden getötet hättest, wüsstest du, dass du mit jedem Menschen, den du tötest, auch einen Teil von dir selbst tötest.
Der Soldat wird unsicher, kratzt sich am Kopf.
Und jeder Tote schürt einmal mehr die Wut der Menschen. Und wo soll das alles einmal enden?
Ich habe Befehle, sagt der Soldat.
Du hast einen Befehl, und du hast eine Waffe, aber du hast auch einen Kopf, und mit dem kannst du denken.
Der Soldat lockert seinen Griff und der Lauf seines Gewehrs zeigt jetzt mehr auf den Boden als auf Eskandar-Agha.
Soll ich dir etwas verraten?, fragt Eskandar-Agha und spricht erst weiter, als der Soldat nickt. Jeden Tag desertieren Soldaten und schla gen sich auf die Seite der Bevölkerung und der Demonstranten. Weißt du, was mit ihnen geschieht? Eskandar-Agha wartet, bis der Soldat den Kopf schüttelt. Sie werden gefeiert. Sie werden geküsst und auf Schultern getragen. Diese jungen Männer sind Helden, leuchtende Sterne in dieser ansonsten düsteren Zeit, sagt Eskandar-Agha und nimmt sich vor, diese, wie er findet, poetischen Worte später aufzuschreiben, falls er die Begegnung mit diesem jungen Soldaten überleben sollte.
Und was mache ich damit?, fragt der Soldat und streckt Eskandar-Agha seine Waffe hin. Und damit?, will der Soldat wissen und zupft an seiner Uniform. Und wo soll ich mich verstecken? Ich komme aus Tabriz, hier in der Hauptstadt kenne ich niemanden, sagt der Soldat, macht einen Schritt auf Eskandar-Agha zu, niemanden außer dir.
Nach meiner Einschätzung der Lage hast du momentan alles, was du brauchst, sagt Eskandar-Agha, streckt die Hand nach der Waffe aus
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