Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade
fesseln.
Den ganzen Tag lang sollte Tita nichts anderes mehr im Sinn haben als die unbeschreibliche Wonne, die sie soeben verspürt hatte. Warum Chencha derlei Dinge erzählte, war ihr ohnehin kein Geheimnis. Seit sie nämlich nicht mehr das Kind war, das man mit Geschichten von Gespenstern, vom schwarzen Mann oder von Hänsel und Gretels Hexe oder derlei Gruselmärchen in Angst und Schrecken versetzen konnte, versuchte Chencha nun, sie mit allen möglichen Horrorgeschichten von Erhängten, Erschossenen, Gevierteilten, Geköpften und sogar von armen Teufeln, denen man das Herz herausgerissen hatte, und noch dazu mitten auf dem Schlachtfeld, aus der Fassung zu bringen! Bei anderer Gelegenheit hätte sich Tita auch gebührend von Chenchas schauriger Phantasie in den Bann ziehen lassen, ja diese farbigen Lügenmärchen am Ende sogar geglaubt, einschließlich der Beteuerung, Pancho Villa lasse sich die blutigen Herzen seiner Feinde bringen, um sie auf der Stelle zu verschlingen, doch im Moment war sie wahrlich nicht zu solchem Unsinn aufgelegt.
Pedros Blick hatte ihr nämlich zu verstehen gegeben, daß sie der Liebe, die er ihr einst geschworen hatte, wieder gewiß sein durfte. Monatelang hatte sie sich vor Gram verzehrt, weil sie fürchten mußte, Pedro habe sie, als er ihr am Tag der Hochzeit seine Liebe gestand, entweder aus purem Mitleid belogen oder mit der Zeit Kosaura tatsächlich liebgewonnen. Diese Zweifel waren aufgetaucht, als Pedro aus unerfindlichen Gründen von einem Tag zum anderen aufgehört hatte, ihre Gerichte zu loben. Von den schlimmsten Befürchtungen gepeinigt, hatte sich Tita daraufhin alle nur erdenkliche Mühe gegeben, von Mal zu Mal besser zu kochen. In endlosen Nächten hatte sie sich dann, wenn sie ein gutes Stück an ihrer Decke weitergehäkelt hatte, aus purer Verzweiflung neue Rezepte ausgedacht, in der Hoffnung, die Innigkeit, die sich mit Hilfe ihrer Gerichte zwischen ihr und Pedro entwickelt hatte, auf diesem Weg wiederherstellen zu können. Während dieser sorgenvollen Monate entstanden ihre besten Kochrezepte.
Nicht anders als der Dichter mit Worten spielt, hatte Tita je nach Lust und Laune mit Zutaten und Mengen experimentiert und damit prächtige Resultate erzielt. Der ersehnte Erfolg war freilich ausgeblieben, alle ihre Mühe umsonst gewesen. Es hatte ihr einfach nicht gelingen wollen, Pedros Lippen auch nur ein Sterbenswörtchen der Anerkennung zu entlocken. Was sie allerdings nicht wissen konnte, war, daß Mama Elena Pedro unmißverständlich aufgefordert hatte, Tita nicht mehr zu loben. Sie hatte das für nötig gehalten, weil Rosaura sich schon aufgrund ihrer Leibesfülle, ihrer im Laufe der Schwangerschaft zunehmenden Plumpheit mit Selbstzweifeln quälte und ihr zumindest die Komplimente erspart bleiben sollten, die Pedro Tita unter dem Vorwand machte, sie gälten ihren vorzüglichen Kochkünsten.
Wie verlassen hatte sich Tita doch während dieser Zeit gefühlt. Wie sehr hatte sie Nacha vermißt! Alle hatte sie zu hassen begonnen, selbst Pedro. Ja sie war am Ende gar soweit gewesen zu glauben, daß sie in ihrem Leben niemals mehr lieben würde. Doch alle diese trüben Gedanken waren im Nu verflogen, als sie plötzlich Rosauras Sohn in den Armen gehalten hatte:
Es ereignete sich an einem kühlen Märzmorgen, als sie sich gerade im Hühnerstall aufhielt, um die frisch gelegten Eier für das Frühstück einzusammeln. Einige waren sogar noch warm, so daß Tita sie sich unter die Bluse steckte und fest gegen die Brust preßte, um das chronische Frösteln, das in der letzten Zeit unerträglich zugenommen hatte, zu lindern. Wie gewöhnlich war sie früher als alle anderen aufgestanden.
An jenem Tag hatte sie sich sogar noch eine halbe Stunde eher als sonst erhoben, um einen Koffer für Gertrudis zu packen. Sie wollte nämlich die Gelegenheit nutzen, daß Nicolás sich auf den Weg machte, um Vieh zu erstehen, und hatte ihn darum gebeten, bei der Gelegenheit ihrer Schwester doch bitte den Koffer vorbeizubringen. Natürlich geschah alles hinter Mama Elenas Rücken. Tita war auf den Gedanken verfallen, sie müsse Gertrudis Kleider schicken, weil sie von der fixen Idee besessen war, ihre Schwester sei weiterhin nackt. Und zwar schrieb sie diesen mißlichen Umstand nicht etwa dem Gewerbe zu, dem ihre Schwester im Bordell an der Grenze nachging. Die Wahrheit wollte sie gar nicht sehen; vielmehr beharrte sie auf der Vorstellung, Gertrudis fehlten einfach die nötigsten Kleidungsstücke
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