Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade
und nur aus diesem Grunde sei es ihr unmöglich, ihre Blößen zu bedecken.
Rasch überreichte sie Nicolás den zum Bersten vollen Koffer mitsamt einem Briefumschlag, auf dem die Adresse des Etablissements vermerkt war, wo er Gertrudis voraussichtlich antreffen würde, und eilte dann ins Haus, um sich umgehend an die Arbeit zu machen.
Da hörte sie plötzlich, wie Pedro den Wagen anspannte. Sie war überrascht, daß er dies zu so früher Stunde tat, doch als sie am Lichteinfall merkte, wie hoch die Sonne bereits am Himmel stand, wurde ihr klar, daß es schon reichlich spät sein mußte, sie also mehr Zeit als vermutet darauf verwandt hatte, Gertrudis' Kleider samt einem Großteil ihrer Vergangenheit im Koffer zu verstauen. Es hatte auch beträchtliche Schwierigkeiten bereitet, etwa jenen Tag mit einzupacken, an dem die drei Schwestern gemeinsam ihre erste Kommunion gefeiert hatten. Die Kerze, die Bibel und die Fotos vor der Kirche hatte sie noch mit knapper Not unterbringen können, aber schon nicht mehr den Duft der Tamales mit Maisbrei, die Nacha für das anschließende Fest im Kreis der Familie und Freunde bereitet hatte. Wohl hatte sie noch Platz für die bunt bemalten Aprikosenkerne gefunden, doch leider nicht für das Gelächter beim Spiel auf dem Schulhof, für die Lehrerin Jovita, die Schaukel, den Geruch nach Gertrudis' Schlafgemach und vor allem nach frisch aufgeschlagener heißer Schokolade. Zum Glück hatten auch Mama Elenas Schläge und Schelte nicht mehr in den Koffer gepaßt, da Tita noch gerade rechtzeitig, bevor sie hineinrutschten, den Deckel zuklappen konnte.
Just in dem Moment, als Pedro verzweifelt nach ihr rief, trat sie auf den Patio hinaus. Er war in höchster Eile, nach Eagle Pass zu Doktor Brown, dem Hausarzt, zu kommen, und hatte sie nirgendwo finden können. Bei Rosaura hatten die Wehen eingesetzt.
Pedro flehte sie nun an, sie möge Rosaura so lange beistehen, bis er zurück wäre.
Leider kam Tita als einzige für die Aufgabe in Frage, an der Seite ihrer Schwester Wache zu halten, war doch sonst niemand mehr im Haus: Mama Elena und Chencha waren unterwegs zum Markt, um dort die dringend erforderliche Auffrischung ihrer Vorräte zu besorgen, denn jeden Augenblick stand die Niederkunft ins Haus, und es sollte doch kein einziger Gegenstand fehlen, der bei derlei Anlässen vonnöten ist. Die Ankunft der Federales, die nun das Dorf mit ihrer Belagerung verunsicherten, hatte sie daran gehindert, diese Erledigungen beizeiten zu machen. Als sie sich endlich doch aufmachten, konnten sie natürlich nicht ahnen, daß die Geburt früher als erwartet einsetzen würde. Kurzum, sie hatten noch nicht ganz das Haus verlassen, als bei Rosaura die Wehen einsetzten.
Tita blieb also nichts anderes übrig, als an der Seite ihrer Schwester auszuharren, in der Hoffnung, es würde nicht ewig dauern.
Ihr war ganz und gar nicht danach zumute, den Jungen oder das Mädchen oder was es auch sein würde zu Gesicht zu bekommen.
Womit sie wahrhaftig nicht rechnen konnte, war, daß Pedro von den Federales unrechtmäßig festgehalten und daran gehindert werden sollte, den Arzt zu Hilfe zu holen, und daß Mama Elena und Chencha durch eine Schießerei ebenfalls im Dorf festsitzen und so gezwungen sein würden, sich zu den Lobos zu retten. Also war Tita die einzige, die der Geburt ihres Neffen beiwohnte, ausgerechnet Tita!
Während der Stunden, die sie bei ihrer Schwester wachte, lernte sie mehr als in den gesamten Jahren auf der Dorfschule. Wie verfluchte sie doch ihre Lehrer und ihre Mutter, denn sie hatten ihr zu keiner Gelegenheit beigebracht, was bei einer Geburt zu tun sei. Was nützte es ihr in diesem Augenblick schon, die Namen sämtlicher Planeten oder gar das Carreño-Benimmbuch von
A bis Z herbeten zu können, während ihre Schwester in Lebensgefahr schwebte und sie dazu verdammt war, untätig zuzusehen. Rosaura hatte im Laufe ihrer Schwangerschaft 30 kg zugenommen, was die Schwierigkeiten bei der Geburt, noch dazu der ersten, wesentlich erhöhte. Abgesehen von der enormen Leibesfülle fiel Tita auf, daß Rosauras Körper von unten nach oben beängstigend anschwoll. Zunächst waren nur die Füße betroffen, schließlich auch Gesicht und Hände. Tita wischte ihrer Schwester unermüdlich den Schweiß von der Stirn und gab ihr Bestes, um Rosaura Mut zuzusprechen, doch diese schien sie nicht einmal zu hören.
Tita hatte einige Male die Geburt von Haustieren miterlebt. Doch diese Erfahrung half ihr
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