Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade
Tages, und beim Spiel vermittelte sie mir alle ihre Kenntnisse. Sie war eine sehr schweigsame Frau, genau wie Sie. Sie pflegte an diesem Ofen zu sitzen mit ihrem langen, um den Kopf gewundenen Zopf und meine Gedanken zu erraten. Ich wollte lernen, es ihr gleichzutun, also erteilte sie mir nach einigem Drängen die erste Lektion. Mit einem unsichtbaren Material schrieb sie, ohne daß ich zusehen konnte, einen Satz an die Wand. Wenn ich dann bei Nacht auf die Wand schaute, erriet ich, was sie geschrieben hatte. Sollen wir es mal versuchen?«
Auf diese Weise erfuhr Tita, daß die Frau, mit der sie so lange Zeit verbracht hatte, Johns verstorbene Großmutter gewesen war. Danach brauchte sie also nicht mehr zu fragen.
Der Doktor nahm mit einem Tuch ein Stück Phosphor auf und reichte es Tita.
»Ich will nicht das Schweigen brechen, das Sie sich auferlegt haben, doch würde ich Sie bitten, mir als Geheimnis zwischen uns beiden, sobald ich fortgegangen bin, auf diese Wand die Gründe aufzuschreiben, warum Sie nicht sprechen wollen, einverstanden? Morgen werde ich sie in Ihrem Beisein erraten.«
Doktor Brown unterließ es wohlweislich, Tita zu sagen, daß eine der Eigenschaften des Phosphors eben darin besteht, die damit auf die Wand geschriebenen Buchstaben in der Nacht leuchten zu lassen. Offensichtlich bedurfte er dieser List gar nicht erst, um zu wissen, was in Tita vorging, doch vertraute er darauf, daß schon mal ein guter Anfang gemacht wäre, wenn Tita aus freien Stücken die Verständigung mit der Welt, und sei es auch nur schriftlich, wieder aufnähme. John hatte den Eindruck, sie sei nun soweit. Kaum hatte der Doktor den Raum verlassen, da griff sie auch schon nach dem Phosphor und trat zur Wand.
Als John des Nachts in das Labor ging, schmunzelte er zufrieden, denn an der Wand las er den in energischer Leuchtschrift geschriebenen Satz: »Weil ich nicht will.« Mit diesen vier Worten hatte Tita den ersten Schritt in die Freiheit getan.
Unterdessen starrte Tita unverwandt an die Decke, wobei ihr Johns Worte nicht mehr aus dem Sinn gehen wollten: Sollte es vielleicht doch möglich sein, ihre Seele aufs neue erzittern zu lassen? Sie wünschte aus vollem Herzen, es sei wahr.
Sie mußte jemanden finden, dem es gelänge, diese Sehnsucht in ihr zu entfachen.
Und wenn diese Person John war? Sie rief sich jenes wohltuende Gefühl ins Gedächtnis, das sie erfüllt hatte, als John im Labor ihre Hand ergriff... Nein. Sie war sich nicht sicher. Das einzige, woran sie nicht
zweifelte, war, daß sie um keinen Preis auf die Farm zurückkehren würde. Niemals mehr wollte sie in der Nähe von Mama Elena leben.
FORTSETZUNG FOLGT...
Nächstes Rezept:
Ochsenschwanzsuppe
KAPITEL SIEBEN
JULI:
Ochsenschwanzsuppe
ZUTATEN:
2 Ochsenschwänze
1 Zwiebel
2 Knoblauchzehen
4 extra rote Tomaten
1/4 kg zarte grüne Bohnen
2 Kartoffeln
4 Morita-Pfefferschoten
ZUBEREITUNG:
Die kleingeschnittenen Ochsenschwänze werden mit einem Stück Zwiebel, einer Knoblauchzehe, Salz und Pfeffer nach Geschmack zum Kochen gebracht. Vorzugsweise stellt man etwas mehr Wasser auf, als für einen Eintopf üblich ist, da hier eine Suppe entstehen soll. Eine richtige Suppe muß flüssig sein, aber nicht verwässert.
Suppen sind geeignet, jegliche Art von körperlicher und geistiger Krankheit zu heilen, darauf schwor zumindest Chencha und nun auch Tita, die es lange Zeit bezweifelt hatte. Alles in allem konnte sie nicht mehr umhin, dieser Maxime Glauben zu schenken.
Vor drei Monaten, als sie einen Löffel von der Suppe zu sich genommen hatte, die Chencha ihr gekocht und zu Doktor Brown gebracht hatte, war Titas gesunder Menschenverstand zurückgekehrt.
Sie hatte an der Scheibe gelehnt und durch das Fenster zugesehen, wie Alex, Johns Sohn, auf dem Hof einer Taube nachlief.
Dann hatte sie Johns Schritte auf der Treppe vernommen und wie üblich freudig seinen Besuch erwartet. Johns Stimme bedeutete ihre einzige Verbindung zur Welt. Könnte sie doch bloß sprechen und ihm sagen, wie wichtig ihr seine Gegenwart und die Unterhaltung mit ihm waren. Könnte sie doch hinuntergehen und Alex einen Kuß geben, als wäre er der Sohn, den sie nicht hatte, und mit ihm bis zur Erschöpfung spielen, hätte sie doch nicht vergessen, wie man wenigstens ein paar Eier zubereitete, könnte sie nur an irgendeinem Gericht Geschmack finden, könnte sie doch... ins Leben zurückkehren. Ein Duft, der ihr in die Nase stieg, ließ sie
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