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Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade

Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade

Titel: Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Esquivel
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eine einzige Frage nach dem Briefinhalt stellte, verriet unzweifelhaft, daß sie ihn längst von A bis Z gelesen hatte.
    Später wischten Tita, Chencha und John gemeinsam das Schlafzimmer, die Treppe und das Erdgeschoß auf.
    Beim Abschied teilte Tita Chencha ihren Entschluß mit, niemals mehr auf die Farm zurückzukehren, und bat sie, dies ihre Mutter wissen zu lassen. Während Chencha einige Zeit später zum soundsovielten Mal geistesabwesend die Brücke von Eagle Pass nach Piedras Negras überquerte, zerbrach sie sich den Kopf, wie sie diese Nachricht Mama Elena wohl am besten beibringen konnte. Die Grenzposten beider Länder ließen sie gewähren, denn sie kannten sie von klein auf. Außerdem belustigte es sie zuzusehen, wie Chencha in Selbstgespräche vertieft von einer Seite zur anderen irrte und dabei unentwegt an ihrem tief ins Gesicht gezogenen Kopftuch nagte. In ihrer panischen Angst war ihr sonst so reger Erfindungsgeist wie gelähmt.
    Wie sie es auch immer darstellte, zweifellos würde sie Mama Elenas Zorn auf sich ziehen. Sie mußte sich eine Geschichte ausdenken, in der wenigstens sie unbeschadet davonkäme. So blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als eine Ausrede für ihren Besuch bei Tita zu finden. Doch Mama Elena würde keine einzige schlucken. Dafür kannte Chencha sie nur allzu gut! Sie beneidete Tita um ihren Mut, der Farm den Rücken zu kehren. Wäre sie doch wie Tita, doch sie würde sich nie trauen, es ihr gleichzutun. Von Kind auf hatte sie zu hören bekommen, wie schlecht es den Frauen erginge, die sich ihren Eltern oder ihrem Dienstherren widersetzten und ihr Zuhause verließen. Sie landeten schließlich gestrauchelt in der schmutzigen Gosse des leichten Lebens. Nervös drehte und zwirbelte sie an ihrem Tuch in dem verzweifelten Versuch, die beste Lüge für eine derartige Situation aus ihm herauszupressen. Niemals zuvor hatte diese Methode versagt. Spätestens bei der hundertsten Windung kam ihr dann auch der rettende Gedanke, wie sie sich mit einer Notlüge aus der Affäre ziehen konnte. Für sie bedeutete die Lüge eine Überlebenstaktik, die sie sich von Beginn an auf der Farm zu eigen gemacht hatte. Viel einfacher war es etwa zu sagen, Pater Ignacio habe sie damit beauftragt, die Kollekte einzusammeln und deshalb komme sie so spät zurück, als zuzugeben, daß sie aus Versehen die Milch verschüttet hatte, während sie auf dem Markt ein Schwätzchen hielt. Die Strafe, die man sich im einen oder anderen Fall einhandelte, war bei weitem nicht die gleiche.
    Kurzum, alles konnte Wahrheit oder Lüge sein, je nachdem, ob man selbst ehrlich daran glaubte oder nicht. Zum Beispiel war nichts von dem wirklich eingetreten, was sie über Titas weiteres Schicksal spekuliert hatte.
    Dabei hatte sie die ganzen Monate mit der bedrückenden Vorstellung zugebracht, welche Höllenqualen Tita fern von Heim und Herd wohl durchmachen würde. Umringt von Geisteskranken, die ihr Unzüchtigkeiten zuriefen, in eine Zwangsjacke gesteckt und in der Fremde mit wer weiß was für einem schrecklichen Fraß mißhandelt. Die Mahlzeiten in einer Irrenanstalt stellte sie sich als das Schlimmste von der Welt vor, und zu allem Überfluß auch noch bei den Gringos. Und in Wirklichkeit hatte sie Tita völlig wohlauf angetroffen, niemals hatte sie auch nur einen Fuß in ein Irrenhaus gesetzt, und offensichtlich behandelte man sie bei Doktor Brown vorbildlich; auch dürfte sie gar nicht mal so schlecht gegessen haben, denn sie schien sogar ein paar Pfunde angesetzt zu haben. Doch eines war sicher, so gut sie auch gespeist haben mochte, ihre Ochsenschwanzsuppe übertraf fraglos alles, was man Tita bisher vorgesetzt hatte. Daran bestand kein Zweifel, denn warum hätte sie sonst so heftig geweint, als sie die Suppe aß?
    Arme Tita, ganz bestimmt würden ihr jetzt, da Chencha fort war, erneut die Tränen kommen, aufgewühlt von den Erinnerungen und dem Gedanken, niemals mehr an Chenchas Seite zu kochen. Ja, ganz bestimmt würde ihr das sehr nahegehen. Chencha wäre im Traum nicht auf die Idee gekommen, daß Tita sich gerade in diesem Augenblick sehr wohl fühlte beim Abendessen im Mondschein und bezaubernd aussah, so hübsch zurechtgemacht in ihrem bunt schillernden Satinkleid mit Spitzenbesatz, ja, sie erhielt auch noch eine Liebeserklärung. Für Chenchas labiles, leicht erregbares Gemüt wäre das zuviel gewesen. Tita saß ganz nahe am Feuer und verbrannte Eibisch. An ihrer Seite John, der um ihre Hand anhielt. Sie hatte

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