Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade
So konnten ganze Tage vergehen, ohne daß sie weich wurden, denn die Tamales waren beleidigt. In solchen Fällen bestand die einzige Lösung darin, ihnen etwas vorzusingen, damit sie sich beruhigten und garzukochen geruhten. Tita vermutete, eben dies sei mit den Bohnen geschehen, da sie dem Streit mit Rosaura beigewohnt hatten. So blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Bohnen aufzuheitern, indem sie ihnen in schmeichelndem Ton ein Liedchen vorsang, denn viel Zeit blieb nicht mehr, bis sie den geladenen Gästen etwas auftischen mußte.
Zu diesem Zweck war es das beste, sie kramte irgendeinen ihrer glücklichsten Momente aus dem Gedächtnis, um ihn im Gesang wieder aufleben zu lassen. Also schloß sie die Augen und stimmte einen Walzer an, dessen Text lautete: »Ich bin glücklich, seit ich dich erkor, dir schenkt' ich meine Liebe, doch mein Herz ich verlor ...« Eindringlich kamen ihr die Bilder des ersten Treffens mit Pedro in der dunklen Kammer wieder in den Sinn. Die Leidenschaft, mit der Pedro ihr die Kleider vom Leib gerissen, und wie ihr Fleisch unter der Haut Feuer gefangen hatte beim Kontakt mit seinen schamlosen Händen. In ihren Adern geriet das Blut in Wallung. Das Herz drohte vor Wonne zu zerspringen. Nach und nach war die zügellose Leidenschaft jedoch einer unendlichen Zärtlichkeit gewichen, die ihre erhitzten Gemüter besänftigt hatte.
Während Tita sang, begann die Bohnensuppe bald heftig aufzukochen. Endlich saugten die Bohnen den Sud, in dem sie schwammen, in sich auf und quollen fast bis zum Platzen auf. Als Tita die Augen wieder öffnete, fischte sie eine Bohne heraus, um sie zu probieren, und stellte zu ihrem Erstaunen fest, daß sie genau den richtigen Garpunkt erreicht hatten. Dadurch gewann Tita genügend Zeit, um sich selbst noch zurechtzumachen, bevor Tante Mary eintreffen würde. Glücklich und zufrieden verließ sie die Küche und begab sich auf ihr Zimmer, um sich ein wenig herzurichten. Als erstes wollte sie sich die Zähne putzen, denn vom Sturz in dem Wirbelsturm, den die Hühner heraufbeschworen hatten, blieb ihr das unangenehme Gefühl, ihre Zähne seien noch voller schmutziger Erde. Sie nahm eine Portion Zahnpulver und reinigte sich damit gründlich die Zähne.
In der Schule hatte man sie gelehrt, wie man dieses Pulver herstellt. Man benötigt jeweils eine halbe Unze Weinstein, Zucker und Sepiaschale, zusammen mit zwei Drachmen Florentiner Lilien und Drachenblut; alle Zutaten werden zu Pulver zerstoßen und dann gründlich vermischt. Es war die Aufgabe der Lehrerin Jovita gewesen, ihnen das beizubringen. Drei Jahre lang hatten sie Jovita als Lehrerin gehabt. Sie war eine kleine, ganz zierliche Person. Allen war sie im Gedächtnis geblieben, nicht so sehr wegen der Kenntnisse, die sie ihnen vermittelt hatte, als vielmehr, weil sie eine ausgesprochen eigenwillige Persönlichkeit war. Man erzählte sich, sie sei mit achtzehn Jahren nach dem Tod ihres Mannes mit einem Sohn allein zurückgeblieben. Niemals hatte sie ihrem Sohn einen Stiefvater geben wollen, so daß sie freiwillig ein Leben in völliger Keuschheit führte. Gewiß, niemand wußte so genau, wie weit sie wirklich frei entschieden hatte oder insgeheim doch darunter litt, denn mit den Jahren war die Arme immer sonderlicher geworden. Tag und Nacht hatte sie sich wacker bemüht, der wirren Gedanken Herr zu werden. Ihr Lieblingsmotto war der Satz gewesen: »Müßiggang ist aller Laster Anfang.« So hatte sie sich den ganzen Tag lang nicht eine Minute Ruhe gegönnt. Immer mehr hatte sie gearbeitet und immer weniger geschlafen. Mit der Zeit genügten ihr die Pflichten im Haus nicht mehr, um ihr Gemüt zu besänftigen, daher war sie bereits um fünf Uhr in der Frühe auf die Straße gegangen, um auch den Bürgersteig zu fegen. Ihren und den der Nachbarn. Allmählich hatte sich ihr Aktionsradius auf vier Häuserblocks im Umkreis ihres Hauses ausgeweitet, und so war es, crescendo, weitergegangen, bis sie ganz Piedras Negras sauberfegte, bevor sie sich auf den Weg in die Schule machte. Bisweilen waren in ihrem Haar Reste von Straßenschmutz hängengeblieben, weshalb die Kinder sie auslachten. Als Tita sich nun im Spiegel betrachtete, entdeckte sie in ihrer Erscheinung eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer Lehrerin. Vielleicht lag es lediglich an den Federn, die sich beim Sturz in ihrem Haar verfangen hatten, dennoch erschrak Tita gehörig.
Um nichts in der Welt mochte sie sich zu einer zweiten Jovita entwickeln. Rasch
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