Essen mit Freunden - Roman
gelutscht, um an diesem Nachmittag einigermaÃen im Takt zu bleiben. Doch die Fürsorge der drei anderen traf sie mitten ins Herz, was sie ungeschickt und mit ruppigen Kommentaren zu verbergen suchte. Da gute Freunde aber auch damit umgehen können, verurteilte niemand Luises Bemerkungen zu den Geschenken oder regte sich über sie auf. Im Gegenteil. Sie waren da, saÃen neben ihr an diesem Nachmittag, geduldig, beständig. Als die Tränen liefen, zog Thorben sie an sich und wiegte sie in seinen Armen wie
ein Kind. Sybille machte noch eine Runde Espresso, und Anne füllte die Likörgläser nach.
»Du weiÃt, dass du uns jederzeit anrufen kannst«, sagte Anne, als Luise aus Thorbens Umarmung wieder auftauchte, »Alpen heiÃt nicht, dass wir unerreichbar sind. Natascha und ich haben beide unsere Handys an, wenn wir nicht gerade über die Piste huschen. Und Sybille ist sicher auch froh, wenn du sie mit Anrufen vorm heimatlichen Gänsebraten rettest. Dann kann sie vielleicht ihre unvermeidliche Januar-Diät um zwei Tage kürzen. AuÃerdem ist sie ja am achtundzwanzigsten schon wieder hier.«
»Und wenn alle Stricke reiÃen, setzt du dich kurzentschlossen in den Zug. Mein Angebot steht. Du brauchst nur zwei Stunden. Ich hole dich auch garantiert vom Bahnhof ab«, ergänzte Thorben, der Luise vorgeschlagen hatte, ihn über die Feiertage zu seinen Eltern zu begleiten.
»Ich komme schon klar«, schniefte Luise, während sie nach einem Taschentuch suchte. »Ich bin ja kein Kleinkind mehr«, sie schneuzte sich die Nase, »auch wenn ich mich gerade vielleicht wie eines verhalte.« Sie probierte ein schiefes Lächeln. »Fahrt nur und amüsiert euch. Ich werde mich über die Feiertage mit Gesichtscreme einbalsamieren, mich in Jogginghosen und meiner schönsten Unterwäsche durchs Internet flirten, und wenn ich am siebenundzwanzigsten immer noch traurig und allein bin, löse ich die ayurvedische Massage ein und verführe den Masseur.«
»Ein guter Plan«, grinste Sybille, »könnte glatt von mir sein.«
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Luise hatte die Weihnachtstage immer bei ihren Eltern verbracht, nur dreimal war sie nicht zu Hause gewesen. Einmal,
als sie Annes wegen jener Vierzig-Fieber-Grippe pflegte; einmal, als sie frisch verliebt in Jörg war und kaum mitbekommen hatte, dass überhaupt Weihnachten war; und einmal, weil Sybille als Ãberraschung für alle zusammen über Silvester ein Ferienhaus in Dänemark gemietet hatte. Aber diese Reise war erst am zweiten Feiertag gestartet, so dass Luise zumindest noch den Heiligabend bei ihren Eltern war. Meist fuhr sie schon zum Geburtstag ihrer Mutter in ihre alte Heimat und kam erst kurz vor Silvester zurück. Pünktlich am neunzehnten Dezember stand sie bei ihren Eltern vor der Tür, half, Torten zu backen, Salate vorzubereiten, Suppen zu kochen, SoÃen zu rühren, den Tisch zu decken. So war es all die Jahre gewesen. Die Verwandtschaft kam vorbei, Freunde, Nachbarn. Nach dem Geburtstag am einundzwanzigsten, wenn alles aufgeräumt und wieder einsortiert war, besuchte Luise alte Schulfreundinnen. Mit ihnen schwelgte sie in Kindheitserinnerungen und den neuesten Tratschgeschichten. In der Weihnachtszeit streifte sie die Stadt für eine Weile ab und zog sich ihr altes, vertrautes Kinderleben über, ähnlich wie sie abends in ihr weiches Nachthemd aus Jugendtagen schlüpfte, das zwar ein bisschen eng geworden war, aber immer noch nach demselben Weichspüler roch, den ihre Mutter schon seit Jahren benutzte und den sie unter tausend verschiedenen Aromen erkannte. Der Flanell verströmte den Geruch von Lavendel und Sicherheit. Von zu Hause. Die Weihnachtstage bei ihren Eltern waren für Luise immer eigentümlich zeitlos gewesen, Tage, herausgelöst aus dem Alltag wie süÃe Orangenspalten aus der bitteren Schale. Waren alle Einkäufe erledigt und die letzten Geschenke besorgt, wurde die Wohnung weihnachtlich geschmückt, der Tannenbaum aufgestellt, der Keksteller hergerichtet. Der Tod des
Vaters hatte an diesen Ritualen nichts geändert. Neben den Nüssen und Zimtsternen gab es Stollen, den früher nur ihr Vater gegessen hatte. Weder Luise noch ihre Mutter mochten Stollen. Trotzdem wurde er gekauft und auf den Teller gelegt, wo er dann am Ende der Weihnachtstage einsam zurückblieb.
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Es war dunkel. Die Geschäfte hatten geschlossen, die Gottesdienste
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