Essen mit Freunden - Roman
Erinnerung hätte sie sehr gern verzichtet. Ihr reichte ihr aktuelles Leben ohne alte Geschichten. Sie schaute auf die Uhr. »Nein, ganz sicher nicht. Mein Zug geht in zwanzig Minu
ten. Aber ihr könnt Judith, Ole und die Kinder gern von mir grüÃen.«
»Okay, machen wir.« Er zögerte. »Schöne Feiertage dir.« Er machte einen Schritt auf sie zu, und einen Augenblick schien es, als wolle er ihr die Hand geben, sie in den Arm nehmen, oder was auch immer man an Tagen wie diesem aus lauter Nächstenliebe tat. Doch Luise blieb stehen, reglos wie eine Eisskulptur, die Hände versenkt im Dufflecoat. Als die beiden mit ihrem Wagen auÃer Sicht waren, machte auch sie sich auf den Weg. Quer durch die kalte Stadt, zurück in ihre Wohnung.
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Zu Hause blinkte ihr Anrufbeantworter. Thorben mit schönen GrüÃen war auf dem Band, eine ihrer alten Schulfreundinnen und Tante Gertrud. Dann die Stimme ihrer Mutter: »Hallo, Luise! Hier ist Mama. Ich wollte dir schöne Weihnachten wünschen.« Knacken in der Leitung, Knistern. Schweigen. »Ich hoffe, es geht dir gut.« Wieder Schweigen. StraÃenlärm im Hintergrund. »Ich probiere es später noch mal.«
Sie schaute auf ihr Handy, beantwortete die SMS von Sybille, von Anne und von Svenja, sprach Thorben auf die Mobilbox und wünschte auch Ole per Telefon eine gute Weihnachtszeit. Für dieses Gespräch schaltete sie extra den Fernseher ein, damit ein paar feiertägliche Geräusche im Hintergrund erklangen und keine Vermutungen oder dummes Gerede bei der Feier im Reihenhaus aufkamen.
Dann stellte sie ihr Handy ab, drehte den Anrufbeantworter leise und legte sich aufs Sofa.
Und dort blieb sie liegen, während die Zeit floss wie zäher Sirup.
Die Stunden dehnten sich, glitten ineinander, verschwammen. Das Fernsehprogramm gab den Takt vor. Aschenbrödel löste eine Nuss ein und tanzte auf dem Ball mit dem Prinzen, Dickie trat gegen den Fernseher, der Papst segnete die Stadt und den Erdkreis, der Schnee rieselte leise. Zwischendrin döste sie ein, wachte auf, schaltete um. Humphrey Bogart, ein verknautschter Engel in SchwarzweiÃ. Sie lieà die Bilder an sich vorüberziehen. Auf der Mattscheibe und auf ihrer inneren Leinwand. Die letzten Tage, Wochen, Jahre. Provisorien und verpasste Chancen. Nicht gesagte Worte, ungelebtes Leben. Märchenhafte Sehnsüchte. Brüche. Sie versank in Melancholie, Selbstmitleid und Fertigpizza. Am Abend des zweiten Feiertages machte die Fernbedienung schlapp.
Es wurde ruhig in der Wohnung. Luise hatte tatsächlich die ganze Weihnachtszeit auf dem Sofa verbracht, eingehüllt in ihre Decke. Sie hatte es nicht mal unter die Dusche geschafft. Sie fühlte sich stinkend, schwach, wie nach einer Krankheit. Zerbrechlich und einsam. Alle anderen schienen einen Plan zu haben vom Leben. Ein Ziel. Und sie?
Wie oft hatte sie Sybille aufgebaut, wenn die mal wieder von irgendwelchen Männern enttäuscht wurde, hatte Thorben darüber hinweggetröstet, dass die Zeit raste und seine Haare immer spärlicher wuchsen, hatte Anne beim Glücklichsein zugeschaut. Und dann ihre Mutter, um die sie sich ständig sorgte. Der tägliche Anruf, die regelmäÃigen Besuche, die Begleitung bei wichtigen Terminen. Wie viel Zeit hatte sie mit dem Leben anderer Menschen verbracht? Sicher, sie hatte viel zurückbekommen. Unterstützung, Aufmunterung, Geschenke. Sie brauchte nur an das Adventstreffen zu denken. Aber nun saà sie hier allein auf dem Sofa, und
die anderen waren glücklich, auch ohne sie. Sie hatten sich ihr eigenes Leben aufgebaut. Thorben hatte seine Karriere, Sybille ihren Job und ihre Affären, Anne hatte die Liebe ihres Lebens gefunden â und ihre Mutter einen neuen Partner.
Sie hatte viel in ihre engsten Beziehungen investiert. Zeit, Energie. War immer da gewesen, immer erreichbar. Thorben, das Finanzgenie, könnte ihr vielleicht eine Rechnung aufmachen. Jemand wie er hätte ihr sagen können, welche Beziehungsaktien sie behalten sollte und welche es besser aufzulösen galt. Welche Ausgaben eine Fehlinvestition waren. Aber funktionierte eine wirtschaftliche Kalkulation auch mit Emotionen? Konnte sie so einfach eine Anlagenumverteilung auf ihren Gefühlskonten durchführen? Welche emotionalen Rücklagen hatte sie?
Welchen Wert hatte Glück? Ihr eigenes Glück?
Wann war sie das letzte Mal glücklich gewesen?
Was
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