Essen mit Freunden - Roman
ist.« Sie kletterte auf einen Stuhl und griff sich eine der Boxen, die oben auf dem Schrank lagen. »Würdest du bitte die beiden Salate, die du so schön auf den Tisch gestellt hast, in Plastikschüsseln umfüllen und hier hineintun? Wobei ich so ganz nebenbei noch anmerken möchte, dass du eigentlich nur einen Salat machen durftest.«
Luise flüchtete sich in schuldbewusste Geschäftigkeit und fragte dann leise: »Soll ich das Dessert auch noch dazustellen?«
Anne verdrehte die Augen. »Sybille meinte, sie hätte dir ganz klar gesagt: entweder Salat oder Nachtisch.«
Luise tat, als überhörte sie den Kommentar. »Und es wäre nett, wenn du das dort drüben hineinpacken könntest.« Sie öffnete den Backofen, dem ein Duft von Hefe, Kräutern und Oliven entströmte.
»Du bist unverbesserlich«, stöhnte Anne und legte das warme WeiÃbrot in den Korb, auf den Luise gedeutet hatte. »Und nun komm. Wir sind spät dran. Natascha wartet unten im Auto.«
Nachdem alles im Kofferraum verstaut war, musste sich Luise auf den Beifahrersitz setzen. Dann wurden ihr die Au
gen verbunden. »SchlieÃlich soll wenigstens noch eine kleine Ãberraschung dabei sein«, sagte Anne, als der Motor startete. Zu Beginn der Fahrt versuchte Luise noch, sich zu merken, wo es langging, doch bereits nach wenigen Minuten hatte sie die Orientierung verloren. Im Radio lief der Wetterbericht. Fünfundzwanzig Grad, kein Regen. Es war fast Ende Mai, und alles stand in voller Blüte. Das Fenster war ein Stück heruntergekurbelt. Luise konnte den Frühling riechen. Vielleicht würde es ja gar nicht so schlimm werden. Mit dem Geburtstag nicht und auch nicht mit dem Alter. Gleich würde sie vermutlich ein Essen mit den üblichen vier Verdächtigen erwarten und im nächsten Lebensjahr ein Kilo und drei Falten mehr. War das wirklich so furchtbar? Sie hatte viel erreicht im letzten Jahr, sie konnte stolz sein.
»Da vorn«, sagte Anne.
Natascha fuhr langsamer, bog ab, parkte ein. Luise wollte sich die Augenbinde abnehmen, fing sich aber gleich einen Rüffel von Anne ein. Also stieg sie blind aus, blieb neben dem Auto stehen und wartete ab, was als Nächstes passieren würde.
»Wir mussten alle mal mit Sybille üben«, sagte Anne, schob ihren Arm unter Luises und ergriff ihre Hand.
Zu Studienzeiten hatte Sybille ein Praktikum in einem Blinden- und Sehbehindertenzentrum gemacht und ihren Freundeskreis dazu verdonnert, mit ihr Blindenführung zu üben. Luise erinnerte sich noch gut an Annes blaue Flecke, als Sybille auf einem Spaziergang mit verbundenen Augen vergessen hatte, ihr zwei Treppenstufen anzukündigen.
»Es geht los«, kam das Kommando. »Einfach geradeaus. Sandweg mit kleinen Senken. Du musst langsam gehen.«
Vorsichtig stapfte Luise an Annes Arm einem unbekann
ten Ziel entgegen. Aus dem Sandweg wurde nach einer Weile ein fester, aber immer noch unebener Boden. Moos oder Gras. Es schien Bäume zu geben, einen Wald, denn Schatten und Licht wechselten. So viel konnte sie trotz der Augenbinde wahrnehmen. Sie überlegte, wo sie sein könnten. Stimmen näherten sich. Spaziergänger, die im Vorübergehen grüÃten. Etwas überholte sie klimpernd. Wahrscheinlich ein Hund mit Marke am Halsband. Eine kleine Biegung nach rechts. Wieder mehr Licht, Gelächter, ein Tuscheln und dann gespannte Stille. Nur ein Rauschen in der Nähe. Waren es Blätter oder Wasser? Ein Bach? Und dann:
»Happy Birthday to you!« Lauthals und herzlich.
Anne löste das Seidentuch, doch gerade jetzt hätte Luise es gern noch für einen kurzen Augenblick über den Lidern behalten, denn sie merkte, wie ihr die Tränen kamen. Sie blinzelte in die Sonne und brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Sie stand auf einer kleinen Wiese, links ein Waldrand, rechts Schilf, dahinter tatsächlich Wasser. Es musste der Torfsee sein. Die Erste, die sie gegen das Licht erkannte, war ihre Mutter, daneben stand Sybille. Thorben, Hand in Hand mit einer brünetten Schönheit, die Luise noch nie gesehen hatte. Auch Svenja war da und hatte Trixi, eine frühere Kollegin von Text-Berg , und deren Baby dabei. Sie lächelten ihr von einem langen Tisch aus zu, wo Kuchen, Salate, Thermoskannen, Gläser, Teller, Tassen, Blumen und Geschenke auf einer riesigen weiÃen Stoffbahn drapiert waren. Eines von Sybilles Bettlaken in
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