Esti (German Edition)
hundertdreißig Stunden und vierzig Minuten dauernden Tanz, quasi mit wechselnden Pferden.
Esti mochte zwar – leider – nicht die Frage beantworten, was besser, schöner, heilsamer ist: bis zum Äußersten tanzen oder jemanden auf eine wackelige Begründung gestützt in den Mund schießen, doch anhand der Koinzidenz grübelte er lebhaft über historische Zufälle, die Unbeständigkeit des Glücks, die enorme Kraft der Zeit, die spielerische Brutalität des Ganzen nach; er machte Skizzen zum Bild der Schöpfung.
VII
IM RACHEN DES TODES
Im Rachen des Todes
Alfred Brendels Bemerkung
M otto: »Kommen Leben, hauen drauf.« Früh, das weiche Ei war noch gar nicht so weit (es war zwar fertig, aber zu heiß), platzte sein Freund herein, man hätte auf seiner Lunge etwas gefunden, aber seiner Ansicht nach sei es bestimmt kein Krebs, denn er habe fünfzehn Kilo zugenommen. Er blickte Esti abwartend an. Was möchtest du hören. Und er streichelte dem Freund die kleinen, weichen Hände.
Am Nachmittag telefonierte er mit einem anderen Freund, der mit Leukämie im Krankenhaus lag, dieser aber hatte, wie er erzählte, fünfzehn Kilo abgenommen. Dass dies, am Morgen und am Nachmittag, die gleichen fünfzehn Kilo waren, sagte Esti nicht, nur, dann bist du endlich bei deinem Wettkampfgewicht. Stimmt, Blödmann, nur der Wettkampf, bitte schön, ist ein anderer, tönte es lustlos, aber noch immer ein wenig frotzelnd aus dem Hörer. Und Brendels Klavierspiel (Mozart).
Jerry Lee Lewis’ Schweigen
Ich habe mir detailliert, Ton für Ton, vorgestellt, wie ich Stücke von Jerry Lee Lewis teuflisch für Sie auf dem Klavier spiele, dachte Kornél Esti und starb. Er hatte ausgelitten.
Der Tod als Werkstattdilemma
Zitat, »ich«, Zitat Ende, so fasste Kornél Esti die nachmodernen literarischen Bestrebungen und deren Elend und Notwendigkeit zusammen, dann starb er, aber er konnte nicht. Wer einmal in Anführungsstriche geraten ist, lebt ewig. Esti fluchte den ganzen Nachmittag.
*
Du wirst noch Fiktion sein, zischte Esti plötzlich hasserfüllt in das per def unschuldige Gesichtchen seines Enkels und weinte hastig – so dass es keiner sah. Sie hätten es ruhig sehen können, niemand nahm mehr Anstoß an einem schluchzenden Mann, niemand wunderte sich mehr über ein ödes Herz. Während Esti, selbst Fiktion vom Scheitel bis zur Sohle, weinte, starb er. Biss ins Gras. Sein Enkel quietschte vor Lachen.
*
Ich war überrascht, prompt in den Himmel zu kommen, äußerte sich Kornél Esti auf die Frage eines Journalisten, finster vor Schmerz. Mehr über den Tod zu sagen ist schwer, auch die Zeitungen schwiegen geschlossen.
Jammertal
Motto: »Kommen Leben, hauen drauf.« Kornél Esti war ein Förßt-Klaaß-Hypochonder. Er werde ein eingebildeter Kranker, sprach der Herr, der im Ruf stand, ein Purist zu sein, ein Sprachreiniger, sein ganzes Leben und seine ganze Existenz erschöpfte sich, leicht übertrieben ausgedrückt, im Verfolgen wirklicher und vermeintlicher sprachlicher Fehler, und es geschah also. Estis Leben war der reinste Jammer, hier ein Zipperlein, da ein Zipperlein, und dort wird eins sein; freilich, er hatte auch seine Freude daran. Freude und Schmerz Hand in Hand – so banal widersprüchlich ist das Leben. Als er in dieser Dualität unten am Nasenflügel den ersten Mitesser seines Lebens ausdrückte, schrie er dermaßen, dass die halbe Straße zusammenlief. Fettwürmer haben mein Gehirn okkupiert, er schniefte voller Genuss – aber dann wurde die Angelegenheit bereinigt.
Als die Zeit gekommen war, wuchs der Nagel seines großen Zehs ein. Von dem Zeitpunkt an, als er einwuchs, wuchs er regelmäßig ein, und wenn er einwuchs, ging Esti nicht zur Pediküre (zum Beispiel hier zu der Rita, nur einen Sprung), sondern zu seinem Bekannten, einem berühmten Chirurgen (wenn es nötig war, wartete er, bis der aus dem Ausland zurückkam; er nahm an zahllosen Konferenzen teil), der ihn schon kennend nicht stritt, ihn nicht mit einer abwinkenden Handbewegung (»ach, das ist nichts«) ärgerte, eine weichmachende Salbe und eventuell Alsol verschrieb beziehungsweise sich mit ernstem Gesicht über den Fuß beugte, ihn wichtigtuerisch betastete, woraufhin Esti mit triumphierender Koketterie herausschleuderte, dann also Knochenkrebs!?, woraufhin der Oberarzt mit dem obligatorischen »ach, mein lieber Kornél« müde endlich das tun konnte, was er schon im ersten Augenblick hatte tun wollen (mögen): Er winkte ab, und Esti flog glücklich
Weitere Kostenlose Bücher