Esti (German Edition)
aus dem oberärztlichen Thronsaal.
Und da entstand dieser leichte Schmerz in seiner Brust. Er ging wie gewohnt zu seinem Doc, der ihn jetzt nicht mit einer weichmachenden Creme versorgte, doch mit dem gleichen ernsten, gleichmütigen Gesicht wie sonst seine Untersuchungen machte. Am Ende der Untersuchungen fragte Esti, an seinen Gewohnheiten festhaltend und damit der bewährte Abflug, der Abgang, Schwung kriegte, hämisch, dann also Knochenkrebs? Nein, sagte der Prof ohne jede Regung, eher Brust.
Wieder verging etwas Zeit, der Herr vertrat bereits eine nachgiebigere Sprachauffassung, Esti saß mit ihm auf einer Schäfchenwolke und dachte unzufrieden, nun, das ist alles?, derart anekdotisch soll das Leben sein und fertig? Er sagte dem Herrn nichts, doch schon seit geraumer Zeit spürte er im großen rechten Zeh einen leichten stechenden Schmerz.
Ein Mann spricht
Noch vor dem dolce bitte er ums Wort, doch er hätte auch schon nach dem Filet Wellington darum bitten können, und sie sollten jetzt nicht pedantisch werden, dass gar kein Filet Wellington serviert worden sei, irgendwo gebe es immer Filet Wellington, auch wenn außer Frage stehe, dass diese Tatsache nicht beruhigend auf die anwesenden vaterländischen Busen wirken müsse, er wolle auch nicht lange drum herumreden, obgleich es sich nicht gehöre, geradeheraus zu verraten, wer der Täter sei, wogegen man hier einwenden könnte, dass in unserem Fall Täter und Opfer scheinbar ein und dasselbe seien und Letzteres aus Sicht der klassischen Narration nicht unter Schutz stehe, nicht wahr. Er wolle auch nicht viel Lärm um nichts machen, auch wenn er zweifellos über dieses Nichts zu reden wünsche.
Vielleicht könnten sie aufhören zu essen, verdammt nochmal!
Oder wenigstens, mit dem Besteck zu klappern. Verzeihung. Er druckse auch gar nicht länger herum, er spüre eine leichte gereizte Ungeduld, und es würde ihn freuen, wenn davon auch etwas für das Dessert bliebe, dann also in medias res, wiewohl auch das langsame, episch-lyrische Fortschreiten seinen Schauwert habe, die behutsame Darstellung der ersten Zeichen, die noch gar keine Zeichen sind, so dass wir sie auch nicht als erste ansehen könnten, und so, kommod weiter, wie der ganze Horizont zunehmend von Schatten überzogen würde, das wäre schön, doch beginne er jetzt sofort mit diesem Schattendunkel, aus dem es nicht nur keine Aussichten gebe, man habe noch nicht einmal Lust zu schauen: also das Ergebnis der gestrigen Gewebeprobe, und nun sage er auch gar nichts mehr, alles sei klar, ja, sie ahnten richtig, nun ja, wo ist das Klappern des Bestecks?, ja, Knochenkrebs, inoperabel.
Er bitte sie, ihn nicht so anzustarren. Er bitte sie, sich nicht die Hand vor den Mund zu halten, als parodierten sie unbegabt einen unbegabten Schauspieler. Er bitte sie, nicht betont erschrocken einander anzusehen. Er bitte sie, das Glitzern der Augen einzustellen.
So.
Er werde innerhalb eines Jahres sterben, mit großer Wahrscheinlichkeit. Also nicht in einem Monat, aber auch nicht in zwei Jahren, mit großer Wahrscheinlichkeit. Dass der Mensch sterblich ist, erführen sie nicht erst jetzt von ihm, obwohl durch seine Person zweifellos eine neue Situation entstanden sei. Bisher sind immer andere gestorben, heißt es. Er mache sie darauf aufmerksam, dass es normal ist zu sterben, er mache sie darauf aufmerksam, dass es der Norm entspricht, folglich sollten auch sie normal bleiben, beide Seiten sozusagen sollten normal bleiben.
Er wolle nicht, dass sie nun in seiner Gegenwart leiser sprächen, horribile dictu flüsterten, er wolle nicht, dass sie taktvoller seien, es reiche, wenn sie taktvoll sind, er wolle nicht, dass er aus bedeutungsschwanger beabsichtigten Blickwechseln konstatieren muss, wie sehr sich sein Zustand verschlechtert habe, er wolle nicht, dass sie permanent in Tränen ausbrächen, und auch nicht, dass sie so tun, als sei nichts geschehen. Er wolle nicht, dass sie von heute an jenen letzten Augenblick einübten.
Das werde sich ergeben.
Er wolle nicht so tun, als kennte er die Zukunft, als wüsste er, sagen wir, was der Schmerz mit ihm tun werde, und, nun, er gebe auch zu, dass ihn dieser ganze metaphysische Kram nicht in Ruhe lasse.
Sie sollten versuchen, ihn sich einzuprägen .
Das sei sein Wunsch. Nicht im Herzen, vor allem nicht für immer, auch sie würden einst auf dieser Seite stehen, ja, selbst die kleinen Knirpse, unter ihnen gesagt, pfeife er auf ihr Herz. Vielmehr sollten sie sich seine
Weitere Kostenlose Bücher