Esti (German Edition)
herum, dieser jedoch kehrte wie ein Traum (lassen wir endlich die Träume!) immer wieder. Oder ging gar nicht fort. Kornél Esti hatte ein Geheimnis , das war der Satz. Während ich also, wenn ich mich auch nicht zierte, so doch Widerwillen ausstrahlte, keine direkte Antwort gab, der Entscheidung mit einem Scherz auswich – währenddessen musste ich mich fast zurückhalten, der Redaktion nicht gleichsam jauchzend in den nietenbeschlagenen Lederklamottenschoß zu springen.
Esti hatte also ein Geheimnis. Ein großes Geheimnis. Beziehungsweise stellen wir hier die berechtigte Frage, wie groß dieses Geheimnis in Wahrheit tatsächlich war. Wie groß ist im Allgemeinen ein Geheimnis. Wie ein Bündel, würde ich auf Anhieb antworten. Mag sein, dass es heutzutage in einem mittelmäßig entwickelten, mittelmäßig industrialisierten Land gar keine Bündel mehr gibt, ja, die Jugend vielleicht nicht einmal das Wort mehr kennt. Und wenn sie hört, jeder habe sein Bündel zu tragen, denkt sie nichts, 6 weil eben niemand mehr ein Bündel trägt. Sei es also rucksackgroß, jedoch nicht dieser designte Firlefanz von heute, sondern der zum Wandern; ein ordentlicher. Oder um einen branchennäheren Gegenstand zu nennen: eine größere, das heißt vollgestopfte Aktentasche. (Einmal hatte ich übrigens ein Geheimnis, das trug ich in einer Aktentasche. Wenn ich mich in der Vorortbahn hinsetzte, presste ich sie, die Arme um sie gelegt, an mich wie einen Säugling, schlaf, Kindlein, schlaf, meine Kleine, nur ruhig … Ich hatte nicht das Gefühl, das Geheimnis sei schwer, doch wenn ich, sagen wir, bei der Margaretenbrücke, das heißt noch unter der Erde, wo das Fenster wie ein Spiegel funktioniert, zur Seite blickte und diesen gebeugten Mann sah, wie er sich erschrocken an der Tasche festhielt, dann wusste ich einfach nicht, um wen es sich handelte. Ich wusste nicht, wer ich bin, lediglich die Vorortbahn fuhr mit mir dahin.)
Die Größe hängt natürlich davon ab, woran wir sie messen. Denn im Vergleich zu einer Glasperle ist jede Aktentasche gewaltig, doch schon am Gasthaus »Zum weißen Elefanten« gemessen eine Bagatelle. Kurzum, je nachdem, was der Maßstab ist.
Der Maßstab ist das Werk, schmetterte Kornél.
Und er begann das Geheimnis am Werk zu messen. Jahr auf Jahr, Buch auf Buch wuchs das Werk, schrumpfte das Geheimnis. Alter, das klingt so unangenehm, so peinlich symbolisch. Als wären Werk und Geheimnis wie kommunizierende Röhren verbunden, man müsste sich, damit die Metapher funktioniert, nur noch ausdenken, was die Flüssigkeit sein soll. Oder, besser, es wären dann Werk und Leben verbunden und das Geheimnis flösse von hier nach da. Auf jeden Fall ist das Produkt der Maßzahlen von Werk und Geheimnis konstant. Jeder Schriftsteller, gar jede Literatur hätte so eine Konstante. Das ist doch nichts als Blödsinn. Ist es nicht so, dass ein Werk umso geheimnisvoller ist, je größer es ist?
Esti grinste nur. Das war vor zehn Jahren, oder neun, egal. Oder fünfundsiebzig. Am liebsten erzählte ich nicht weiter. Mich interessierte Estis Geheimnis nicht, und er sprach immer mehr darüber. Oder nicht mehr, aber oft. Er berichtete kontinuierlich über die sich ausformende Größe des Geheimnisses. Denn sie formte sich aus. Weil er, Esti, immer mehr lebte, und so das Geheimnis wuchs. Plötzlich war es so groß wie er selbst. Doch wie soll ich mir das vorstellen, nicht bloß so holterdiepolter … Holterdiepolter? Ja, holterdiepolter, nicht holterdiepolter, sondern genau, dass es genau so eine Form hatte wie er. Hals, Nase, Ohren, zum Sprechen. Und so, so voller Fragen, Nordkap, Fremde wie es sein muss …
Doch dann wurde es noch größer. Zunächst wie ein Indischer Elefant, anschließend wie ein Afrikanischer Elefant. Und danach wie eine Pappel. Das Parlament. Der Gellértberg, die Berge des Bakony, die Tatra, der Himalaja. Der Atlantische Ozean. Ach, davor noch der Wal.
Ich wusste, worauf dieses Spiel hinauslief. Genau an dem Tag, als mein Sohn verhaftet wurde (man fand den rostroten Schal!), verkündete Esti, die ganze Welt sei ein Geheimnis. Die ganze Welt ist ein Geheimnis. Nun, lieber Kornél, das ist in dieser Form ziemlich banal. Ich weinte, hastig und leise.
Siebentes Kapitel
in welchem Alles Kunst
A ls Kornél Esti eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte,
fand er sich in seinem Bett zu einem Gemälde verwandelt.
Kruzitürken, murmelte er archaisch vor sich hin, denn das schien im ersten Augenblick sogar
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