Etenya Saga - Band 1: Soyala - Zeit der Wintersonnenwende (German Edition)
verkündete: „Dann – und nur dann –, wenn die Onida Kanti genau hier vor mir steht“, er machte eine ausladende Handbewegung, „werde ich mir überlegen, ob ich deine Schwester verschone!“
Lennos Schwester?
Während sie langsam verstand, worum es wirklich ging, spürte Olivia, wie das Blut, das wild durch ihren Körper schoss, immer dickflüssiger wurde und schließlich zu Eiskristallen erstarrte.
Lenno musste sich also zwischen ihr und einer seiner Schwestern entscheiden. Sie erschauderte erneut. Gleichzeitig drängten Lennos Gefühle auf sie ein.
Er würde eher töten, als diese Entscheidung treffen zu müssen!
Für einen kurzen Moment sah sie Nova Nituna vor sich, die in wilden Gesten und mit einer ausgeprägten Mimik etwas erzählte. Wichtig war nicht das, was sie sagte, sondern wie sie es tat.
Auf den ersten Blick konnte Olivia keine Gemeinsamkeiten mit ihrem Bruder erkennen. Ihr lustiges, rundes Gesicht umrahmten wippende, schwarze Locken, und keinerlei Äußerlichkeiten wiesen darauf hin, dass Lenno und sie Geschwister waren. Lediglich das abenteuerlustige Funkeln in ihren Augen ließ auf eine innere Ähnlichkeit mit ihrem Bruder schließen. Ihre Namen bedeuteten die Tochter, die Schmetterlinge jagt, und beschrieben ihr aufbrausendes und quirliges Temperament, das sich bereits früh gezeigt haben musste. Sie war wie Wenona und Lennos Mutter bildhübsch, wirkte aber widerspenstig und wild, hatte eine unbändige Energie und war äußerst lebenslustig und freiheitsliebend.
Fassungslos betrachtete Olivia diese junge Frau und es versetzte ihr einen tiefen Stich in ihrem Herzen. Novas ganze Art sich zu bewegen, einen anzuschauen und zu reden erinnerte sie nicht an Lenno, sondern an Tatjana. Diese Ähnlichkeit war unglaublich!
Durchflutet von Lennos Emotionen, die ein weiteres Mal in ihr aufstiegen, fühlte sie seine bedingungslose Liebe für seine Schwester. Dieses Gefühl wurde allerdings durch eine verzweifelte Traurigkeit und der puren Angst, sie möglicherweise an diesen Mistkerl zu verlieren, stark getrübt.
Diese beiden Empfindungen, gepaart mit dem Hass und der Verachtung, die Lenno gegenüber Nukpana empfand, waren die Triebfeder der Erinnerungsfetzen, die nun in schneller Folge auf Olivia einwirkten. Sie erzählten ihr Lennos verzweifelte Suche nach der Onida Kanti, die schließlich in ihrer ersten Begegnung endete.
Es war irgendwie seltsam und befremdlich, sich selbst durch Lennos Augen zu sehen und seine Gefühle dabei zu spüren. Als würde sie heimlich in einem fremden Tagebuch lesen, wuchs in Olivia diese unerträgliche Art von Anspannung, die einen plagt, wenn man von etwas Verbotenem derart fasziniert ist, dass man nicht damit aufhören kann, obwohl man durchweg Angst hat, erwischt zu werden.
Bereits bei ihrem ersten Anblick hatte Lenno gewusst, dass ihn das Schicksal zu ihr geführt hatte. Zu Olivias Überraschung hatte er sie nicht, wie sie immer angenommen hatte, erstmals im Bus gesehen, sondern auf der Straße.
Aus einem selbst für ihn unerfindlichen Grund zog es Lenno in ein altes, unbewohntes Haus. Während er sich einem mächtigen Sog hingab, der ihn in die oberen Stockwerke lockte, hörte er unten an der Tür ein Läuten. Trotzdem folgte er weiter seinem inneren Antrieb, denn er wusste, dass Aya diesem fremden Geräusch nachgehen würde.
Er durchschritt sämtliche Räume, und als er alle bis auf einen erkundet hatte, fragte er sich immer noch, was ihn hierhergeführt hatte.
Kaum hatte er jedoch das letzte Zimmer betreten, dessen Fenster zur Straßenseite zeigten, verfestigte sich in ihm die Gewissheit, dass er sie gefunden hatte. Er spürte förmlich die Existenz der Onida Kanti, die mit jedem ihrer Schritte, mit denen sie sich ihm näherte, in ihm anwuchs, bis ihre Präsenz ihn vollends erfüllte und mit rasendem Herzen zum Fenster trieb.
Und dort sah er sie zum ersten Mal.
Die Ersehnte, die für seine Welt singen würde, um sie zu retten.
Jetzt erst wurde Olivia bewusst, wie lange Lenno auf diesen Augenblick gewartet hatte. In den letzten fünfzehn Jahren hatte er genug Zeit gehabt, sich ein Bild von ihr und dem Moment zu machen, in dem er ihr begegnen würde.
Was er sah, brachte ihn jedoch völlig aus dem Konzept. Dort wandelte keine vor Anmut, Stolz und Erhabenheit strotzende Kämpfernatur entlang, gehüllt in eine strahlende Aura, die ihrem Betrachter den Atem verschlug. Nein, es war Olivia, ein einfaches Mädchen, das blass und genervt den Bürgersteig
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