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Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
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sich diese Frage. Aber es ist kein Zufall, dass das moderne Konzept der Toleranz im Blick auf religiöse Pluralität ausgebildet wurde, denn in diesem Fall verbinden sich unterschiedliche Verhaltensweisen mit unterschiedlichen Wahrheitsüberzeugungen. Ist Toleranz eine geeignete Leitidee für den Umgang mit solchen Unterschieden?
Toleranz, Achtung, Anerkennung
    In Breslau trägt ein Stadtteil in der Nähe des Zentrums seit einiger Zeit den Namen «Stadtviertel der gegenseitigen Achtung». Die jüdische Synagoge und Gotteshäuser für drei christliche Konfessionen liegen indiesem Gebiet. Zunächst hatte man vom «Stadtviertel der Toleranz» gesprochen, doch dann wurde der Name geändert: Toleranz sei nicht genug, so hieß der Einwand. Bloße Toleranz verweigere dem Wahrheitsanspruch des andern den Respekt. Man entziehe sich dadurch gerade der Spannung zwischen Identität und wechselseitiger Achtung.
    Zu jeder Religion gehört ein unbedingter Wahrheitsanspruch. Unbedingt ist er in dem Sinn, dass man nicht gegensätzliche Überzeugungen zugleich als wahr anerkennen kann. Unter pluralen Gegebenheiten gelingt das Zusammenleben aber nur, wenn man nicht nur die eigene Wahrheit ernst nimmt, sondern auch die Wahrheitsansprüche anderer respektiert. Wie lässt sich beides miteinander verbinden?
    Weder Duldung noch Indifferenz sind zureichende Lösungen. Gegen Toleranz als bloße Duldung sprach Johann Wolfgang von Goethe sich in einer markanten Weise aus, als er erklärte: «Dulden heißt Beleidigen.» Denn wahre Liberalität, so fügte er hinzu, könne sich nicht in bloßer Duldung erschöpfen, sondern müsse sich in der Anerkennung des Anderen zeigen (Goethe 1960: 385). Nur wenn man einen Anderen unabhängig von seiner abweichenden Überzeugung oder Lebenspraxis als Gleichen anerkennt, wird man der Vorstellung von einer unantastbaren Würde gerecht. Daran zeigt sich: Toleranz mag im Blick auf die Überzeugungen und mit ihnen verbundenen Handlungsweisen Anderer ausreichen, im Blick auf deren Person geht es aber um etwas anderes: Wir müssen ihnen mindestens Respekt, besser noch Wertschätzung entgegenbringen. «Respektiert wird die Person des Anderen, toleriert werden seine Überzeugungen und Handlungen.» (Forst 2003: 46)
    Die Indifferenz in Wahrheitsfragen bietet ebenso wenig einen Ausweg, denn Menschen unterstellen sich als sprachlich kommunizierende Wesen Wahrheitsfähigkeit und leugnen eine zentrale Dimension ihres Menschseins und ihrer mitmenschlichen Existenz, wenn sie dies ignorieren. Sie nehmen einander als Personen nicht ernst, wenn sie gegenüber Konflikten in Wahrheitsfragen gleichgültig sind.
    Wann immer von Toleranz die Rede ist, rückt die Ringparabel aus Lessings «Nathan der Weise» in den Blick. Doch zeigt dieser dichterische Vorschlag eine ausreichende Fahrrinne zwischen der Skylla der Duldung und der Charybdis der Indifferenz? Ist das Bild der drei Ringe, unter denen der wahre Ring sich nicht mehr finden lässt, wirklich ein Modell von Toleranz?
    In dieser Parabel ziehen die drei Söhne, die von ihrem Vater drei gleich aussehende Ringe erhalten haben, vor den Richter, um feststellen zu lassen, wer den echten Ring und mit ihm auch die Herrschaft geerbt hat. Da jedoch nach der Auffassung des Richters die Wahrheitsfrage nicht entschieden werden kann, macht er stattdessen die Frage zum Prüfstein, wer von den dreien der beliebteste sei, welchen also zwei der drei Brüder besonders lieben. Dieser Test bleibt ohne Ergebnis, weil die erklärte Liebe zu einem Bruder das Eingeständnis impliziert hätte, dass er über den echten Ring verfügt. Das veranlasst den Richter zu der Einschätzung, dass es diesen gar nicht mehr gibt; er ging vielmehr, so vermutet er, verloren. An die drei Brüder appelliert er, trotzdem an die Echtheit ihrer Ringe zu glauben und dies durch ein Verhalten unter Beweis zu stellen, das durch vorurteilsfreie Liebe und Verträglichkeit geprägt ist (Lessing 1971: 276ff.; vgl. Härle 2008: 118ff.).
    Vielleicht genügt das Bild eines Miteinanders, das durch Liebe und Verträglichkeit geprägt ist, der von Goethe erhobenen Forderung, Anerkennung an die Stelle bloßer Duldung treten zu lassen. Aber entgeht Lessing mit dem Abschluss der Ringparabel der Gefahr, dass die Wahrheitsfrage sich in bloßer Indifferenz auflöst? Mit dem richterlichen Entscheid, es gebe zwar keinen echten Ring, jeder solle aber gleichwohl an die Echtheit des eigenen Rings glauben, wird die Frage nach dem Verhältnis von

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