Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Toleranz und Wahrheit geradezu suspendiert. Das Ertragen einer fremden Wahrheitsüberzeugung wird nicht mehr gefordert, denn nach der Wahrheit der Religion wird nicht mehr gefragt. Die Wahrheitsgewissheit wird aus einer Überzeugung zu einer Hypothese in praktischer Absicht. Religion wird auf Moralität reduziert und die Verschiedenheit der Glaubensüberzeugungen wird unerheblich. Damit werden diese Überzeugungen relativiert: Alle drei Religionen sind gleichermaßen «wahr». Die in der Ringparabel zum Ausdruck gebrachte Toleranzidee der Aufklärung hat allerdings bis zum heutigen Tag kaum zu einer Beilegung von Religionskonflikten geführt (vgl. Reuter/Kippenberg 2010).
Neue Religionskonflikte
Seit dem September 2001 zeichnet sich im Umgang mit dem Toleranzproblem ein Paradigmenwechsel ab. Bis zu diesem Datum neigte man dazu, die gesellschaftliche Transformation in Europa unter kulturellem Gesichtspunkt als eine Entwicklung zu wachsender Pluralität anzusehen. Eine pluralistische Religionskultur galt als eines ihrer Merkmale. Die aufgeklärte Säkularität, die in Europa das Verhältnis von Religion und Rechtsordnung bestimmt, erschien dafür als ein günstiger institutioneller Rahmen. Ein multireligiöser Relativismus galt vielen als eine für das Zusammenleben förderliche Geisteshaltung. Die Tendenz zur Selbstaufhebung, die jeder derartigen Indifferenz eignet, trat kaum ins Bewusstsein.
Zu den ersten Reaktionen nach den Anschlägen auf die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 gehörte der Appell, den Dialog mit dem Islam verstärkt fortzusetzen. Die religiöse Trauerfeier für die Opfer des Anschlags auf das World Trade Center im Yankee Stadium in New York bezog die Vertreter des Islam bewusst ein. Aber zugleich ließen die Terroranschläge des 11. September wie auch die Selbstmordattentate jugendlicher Palästinenser eine Ausprägung des Islam vor Augen treten, die mit aufgeklärter Toleranz unvereinbar ist. Die Einschätzung, dass das Phänomen eines fundamentalistischen und teilweise gewaltbereiten Islamismus auf bestimmte Länder zwischen Saudi-Arabien und Pakistan beschränkt sei, trägt nicht mehr.
Die Attentäter des 11. September hatten eine religiöse Anleitung bei sich, in der die Vernichtung von Menschenleben direkt aus den Lehren des Koran hergeleitet wurde. Die Gewalt, die sie verübten, wurde als Vollzug eines göttlichen Willens und damit als Gottesdienst angesehen (vgl. Kippenberg 2008: 161ff.; Huber 2009). Die Folge war, dass in vielen öffentlichen Debatten nicht nur der Islam, sondern die Religion insgesamt mit Gewaltbereitschaft und Intoleranz gleichgesetzt wurde. Menschen aus muslimisch geprägten Ländern wurden nun häufig nur noch im Hinblick auf ihre religiöse Identität betrachtet; hatte man sie vorher beispielsweise durch den Verweis auf ihr Herkunftsland gekennzeichnet, wurden sie nun allein durch ihre Religionszugehörigkeit identifiziert.Doch in keinem Fall reicht es, die Identität von Gruppen oder Einzelnen nur von einem Identitätsmerkmal aus zu betrachten. Eine solche Reduktion – sei es auf den Status als Anhänger eines Fußballclubs, auf die Staatsangehörigkeit, auf ein ethnisches Merkmal, sei es auf Geschlecht, Klasse oder Religion – wird der multiplen Identität von Einzelnen und Gruppen in keinem Fall gerecht. Nehmen Gruppen sich wechselseitig auf eine derartige Weise wahr, fördert dies Fanatismus. Identitätsreduktion wirkt konfliktverschärfend und wird zur Identitätsfalle (Sen 2007; vgl. oben S. 99f.). Diesem Mechanismus wurde die Religion seit 2001 in verstärktem Maß ausgeliefert. Die bereits Jahre zuvor von Samuel Huntington formulierte Vorstellung von einem Kampf der Kulturen erhielt dadurch einen erheblichen Auftrieb (vgl. Huntington 1996).
Ob Huntingtons These vom
clash of civilizations
sich doch als zutreffend erweise, wird inzwischen gefragt. Man wird einräumen müssen, dass das in Religionen enthaltene Konfliktpotential größer ist, als eine multireligiöse Euphorie wahrhaben wollte. Die programmatische Ausrufung eines Kulturkonflikts führt allerdings in die falsche Richtung. Dringlich geboten ist vielmehr ein tolerantes Verhältnis zwischen den Religionen. Die Furcht vor einer aggressiv auftretenden Religion wurde mit dem Versuch beantwortet, die Religion aus dem öffentlichen Raum zurückzudrängen und auf den Bereich des Privaten zu verweisen. Gibt es angesichts der Tendenzen zur Fundamentalisierung der
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