Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Religion einerseits und ihrer Privatisierung andererseits eine dritte Möglichkeit?
Toleranz aus Überzeugung
Diese Möglichkeit eröffnet sich nur dann, wenn die Religionen aus sich selbst einen positiven Zugang zur Toleranz finden. Diese darf sich jedoch nicht auf Indifferenz, sondern muss sich auf Überzeugungen stützen. In der Toleranz verbinden sich, wie der Philosoph Rainer Forst gezeigt hat, drei Elemente miteinander: eine Ablehnungs-Komponente, eine Akzeptanz-Komponente und eine Zurückweisungskomponente (vgl. Forst 2000, 2003, 2011).
Von einer Ablehnungs-Komponente ist zu sprechen, weil das Problem der Toleranz überhaupt nur im Blick auf Praktiken oder Überzeugungen einer Gruppe entsteht, die von anderer Seite als falsch oderschlecht beurteilt werden. Wäre es anders, so würden diese Praktiken entweder gutgeheißen oder als gleichgültig angesehen – das Problem der Toleranz würde sich gar nicht stellen. Eine Toleranz aus Indifferenz kann es nicht geben, denn Indifferenz schließt eine Ablehnungs-Komponente aus.
Zur Toleranz gehört als zweites eine Akzeptanz-Komponente, die den abgelehnten Praktiken oder Überzeugungen Raum gibt – sei es, weil sie sich in einen größeren Zusammenhang einfügen, weil deren Träger aus pragmatischen Gründen willkommen sind oder weil der Respekt vor der gleichen Würde aller Menschen unabhängig von ihren Praktiken und Überzeugungen zu deren Akzeptanz verpflichtet.
Schließlich tritt diesen Merkmalen eine Zurückweisungskomponente zur Seite. Sie bezieht sich auf die Grenzen der Toleranz: Wenn Praktiken oder Überzeugungen die Bedingungen für ein gemeinsames Leben ihrerseits aufkündigen oder wenn deren Träger die gleiche Würde aller Menschen bestreiten oder missachten, sind Grenzen der Toleranz erreicht, die zu einer Zurückweisung führen. Denn in gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, fundamentalistischen Überlegenheitsbehauptungen, der Rechtfertigung von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Ziele oder dem Einsatz von Korruption zur Verwirklichung der eigenen Interessen werden die Bedingungen der Toleranz selbst negiert. Die Zurückweisung gilt dabei Haltungen und Handlungsweisen, der Respekt vor der Würde der beteiligten Personen bleibt davon unberührt.
Diese drei Komponenten miteinander zu verbinden ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Die Religionen haben vor ihr immer wieder versagt, auch das Christentum. Voltaire lässt deshalb in seinem Essay über die Toleranz einen chinesischen Weisen an die Christenheit die Frage richten, warum sie es denn mit der Toleranz nicht weiter gebracht habe und woher sie die Anmaßung nehme, «die Rechte der Gottheit an sich reißen und noch eher als sie das ewige Schicksal aller Menschen entscheiden» zu wollen (Voltaire 1986: 235; Höffe 2012: 219). Auch wenn die christlichen Kirchen über lange Zeit von der Bereitschaft zur Toleranz weit entfernt waren, lässt sich doch zeigen, warum die Idee der Toleranz mit dem Kern des christlichen Glaubens verbunden ist und sich schließlich auch in weiten Bereichen des Christentums Geltung verschaffen konnte. Die Verbindung des Toleranzgedankens mit dem christlichenGlauben muss, wie schließlich erkannt und anerkannt wurde, als so eng angesehen werden, dass der Intoleranz, wo immer sie im Christentum auftritt, aus Gründen des christlichen Glaubens selbst widersprochen und widerstanden werden muss.
Der christliche Glaube schließt die Überzeugung ein, dass alle Menschen zum Ebenbild Gottes geschaffen sind und ihnen, wie man seit der Renaissance sagt, deshalb die gleiche Würde zukommt. Diese Überzeugung begründet eine Achtung gegenüber jedem Menschen, die von Glaubensunterschieden unabhängig ist. Darüber hinaus gilt nach christlichem Verständnis für den Glauben, dass er nicht durch menschliches Handeln hervorgebracht wird; er ist vielmehr eine Gewissheit, die sich dem Menschen erschließt, ohne dass er selbst darüber verfügt. «Aus menschlicher Perspektive gilt: Glaube wird geschenkt, nicht gemacht.» (Schwöbel 2002: 24) Das gilt nach christlicher Überzeugung nicht nur für die christliche Glaubensgewissheit, sondern für alle Gewissheiten. Grundlegende Überzeugungen haben ihren Ort im Gewissen des Einzelnen. Gewissensentscheidungen anderer, so der scholastische Theologe Thomas von Aquin, sind auch dann zu achten, wenn es sich dabei um ein schuldlos irrendes Gewissen handelt (vgl. oben S. 110f.). Die Reformation hat diese Einsicht dadurch verschärft, dass sie jeden
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