Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
bringen.
Die Beschneidung als Toleranztest
Die christliche Tradition lehnt die Beschneidung als religiöses Ritual ab. Ob die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde die Beschneidung der männlichen Mitglieder voraussetze, war einer der großen Kontroverspunktedes frühen Christentums. Das Ergebnis hieß, dass die Taufe – ein sakramentaler Ritus, der beide Geschlechter einschließt – die Voraussetzung der Gemeindezugehörigkeit sei, nicht die Beschneidung. Doch im Judentum blieb die Beschneidung männlicher Neugeborener am achten Tag ein maßgebliches Zeichen für die Aufnahme in den Bund, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat. Ein paralleler Ritus bei weiblichen Neugeborenen trat nicht in den Blick. Ohne eine vergleichbar enge Bindung an den achten Tag nach der Geburt wird die männliche Beschneidung auch im Islam praktiziert; die religiöse Differenz zwischen Frauen und Männern lässt sich gerade an diesem Ritus ablesen.
Im Judentum wie im Islam ist die männliche Beschneidung klar von der weiblichen Genitalverstümmelung durch Entfernung der Klitoris unterschieden, die in der herrschenden Auffassung nicht als religiös begründeter oder kulturell vertretbarer Ritus akzeptiert ist. Bedrückenderweise wird freilich heute auch die Genitalverstümmelung an Mädchen, eine grauenvolle Verletzung mit lebenslangen Folgen, massenhaft praktiziert und teilweise sogar religiös gerechtfertigt. Jede Debatte über die Tolerierung der religiös motivierten männlichen Beschneidung muss von Anfang an durch eine klare Grenzziehung gegenüber der weiblichen Genitalverstümmelung bestimmt sein.
Für die meisten Menschen außerhalb jüdischer und muslimischer Gemeinschaften mag der Ritus der Beschneidung etwas Befremdliches haben. Doch genau deshalb taugt er als Prüfstein für die Frage, wie weit Toleranz gehen kann und gehen muss. Vertreter der jüdischen Gemeinschaft machen geltend, dass die Zukunft jüdischen Lebens in einer Gesellschaft davon abhänge, ob die Beschneidung männlicher Neugeborener vollzogen werden könne, ohne als Rechtsverstoß zu gelten. Auch von muslimischer Seite wird Klarheit darüber gefordert, dass eine religiös motivierte Beschneidung keine Straftat sei. Nachdenklich muss die Feststellung stimmen, dass ein strafrechtliches Verbot der Beschneidung weltweit einmalig wäre. In Deutschland wurde nach einer lebhaften Debatte gesetzlich klargestellt, dass eine mit Zustimmung der Eltern durchgeführte männliche Beschneidung, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird, keine Körperverletzung darstellt.
Mit einer solchen Regelung ist auf der politischen Ebene gewährleistet, dass der Ritus der männlichen Beschneidung in den Bereich der religiösenÜberzeugungen und Verhaltensweisen gehört, die durch die Religionsfreiheit gedeckt und durch die Toleranz in religiösen Angelegenheiten geschützt sind. Doch Toleranz hat nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche und eine persönliche Dimension. Die lebhafte politische Debatte über dieses Thema lässt sich nur durch die Verknüpfung mit den beiden anderen Dimensionen verstehen. Die Grenze gesellschaftlicher Toleranz ist beispielsweise für diejenigen überschritten, für die – selbst bei einem vergleichsweise geringen chirurgischen Eingriff – die körperliche Unversehrtheit höher zu gewichten ist als die Religionsfreiheit. Der säkulare Charakter der Gesellschaft wird dafür in Anspruch genommen, dass ein rechtlicher Spielraum für einen Ritus dieser Art nicht länger gewährt werden müsse. Bei der Forderung, diese Praxis zu ächten, bleibt im Übrigen häufig unberücksichtigt, dass Beschneidungskritik in früheren geschichtlichen Phasen zum Arsenal antisemitischer Vorurteile gehörte.
Das Beispiel zeigt: An religiösen Riten kann sich noch stärker als an religiösen Doktrinen Streit entzünden; wenn religiöse Praktiken Kontroversen auslösen, spitzt sich häufig die Frage zu, wie weit die Toleranz reicht und wie viel Verschiedenheit hinzunehmen ist. Wenn unterschiedliche religionsbestimmte Praktiken auf engem Raum aufeinandertreffen, stellt sich der Ernstfall für die Toleranz ein. Er tritt für denjenigen auf, der von einer als negativ empfundenen Überzeugung oder Verhaltensweise betroffen ist, eine zumindest theoretische Möglichkeit der Einflussnahme hat und sich fragt, ob er das als negativ Empfundene dennoch hinnehmen will (Erlinger 2012: 173).
Nicht nur an religiösen Unterschieden entzündet
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