Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Mitwirkungsrechte damit Schritt hält. Internationale Konferenzen und transnationale Zusammenschlüsse fällen – oder blockieren – wichtige Entscheidungen.
Dass die Reaktionen auf wirtschaftliche Turbulenzen in international abgestimmtem Regierungshandeln erfolgen, ist unausweichlich. Auch wenn deren Umsetzung mit einem Parlamentsvorbehalt versehen ist, bleibt der parlamentarische Einfluss auf solche Entscheidungen zumeist bedeutungslos. Finanzmarktkrisen und Staatsschuldenkrisen verändern das Verhältnis zwischen Wirtschaftsprozessen, Regierungsentscheidungenund parlamentarischer Gestaltungsmacht. Solche Entwicklungen erwecken den Eindruck, die entwickelten Demokratien seien in ein postdemokratisches Zeitalter eingetreten (Crouch 2008; 2011).
Angesichts dieser Situation wird gefragt, mit welchen Mitteln die Demokratie bewahrt und weiterentwickelt werden kann. Als eines der Mittel zur Vitalisierung demokratischer Institutionen gilt die aktive Mitwirkung der Bürgergesellschaft. Deren direkte Beteiligung an politischen Entscheidungen soll die Verbindung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten stärken. Eine Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten in der Demokratie sollte man jedoch nicht allein von zusätzlichen Möglichkeiten der Gesetzgebung durch Plebiszit erwarten. Auch auf andere Weise können die Bürgergesellschaft und ihre Zusammenschlüsse eine stärkere Bedeutung für politische Entscheidungsprozesse gewinnen. Das Lebenselement der Demokratie ist der öffentliche Diskurs, die Abwägung unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten bei breiter Wahrnehmung unterschiedlicher Lebenssituationen und Lebensinteressen. Das Wechselspiel zwischen Bürgergesellschaft und Parlamenten ist dafür von entscheidender Bedeutung. Organisierte Bürgerdialoge können dazu genauso beitragen wie spontane Formen des bürgerschaftlichen Engagements. Parlamentarische Debatten gewinnen an Substanz und Farbe, wenn sie sich auf eine lebendige gesellschaftliche Diskussion beziehen können. Verglichen damit führt die Vorstellung, dass eine breitere bürgerschaftliche Beteiligung sich vorrangig oder gar ausschließlich in erweiterten Formen des Plebiszits ausdrücken solle, eher zu einer Verengung. Eine direkte Mitwirkung an der Gesetzgebung über kontroverse Fragen gerät leicht in einen Sog der Polarisierung und Vereinfachung (vgl. Möllers 2008: 66f.). Es ist deshalb zu begrüßen, wenn die Forderung nach direkter Demokratie sich stärker mit den Konzepten von Bürgerbeteiligung und partizipatorischer Demokratie verbindet (Nolte 2012: 407).
Politik ist nach einem Otto von Bismarck zugeschriebenen Zitat die Kunst des Möglichen. Sie erfordert die Bereitschaft zum Kompromiss. Er darf jedoch nicht ein bequemer Ausweg aus der Kontroverse sein, sondern muss der Gestaltungsaufgabe gerecht werden, um die es geht. Dafür sind Kompetenz und Einsatzbereitschaft gefordert, oder – mit Max Weber gesprochen – «ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich» (Weber 1994: 88).
16. Toleranz
Wie viel Verschiedenheit halten wir aus?
Im Mai 2012 urteilte das Landgericht Köln, ein Arzt, der bei einem Jungen auf Verlangen der Eltern eine Beschneidung an der Vorhaut des Penis durchführe, mache sich der Körperverletzung schuldig. Auf eine Verurteilung des Arztes verzichtete das Gericht nur, weil es einen Verbotsirrtum unterstellte. Als das Urteil einige Wochen später bekannt wurde, erregte es eine außerordentliche öffentliche Aufmerksamkeit. Die Richter hatten sich nur auf die medizinrechtliche Perspektive bezogen: Jeder chirurgische Eingriff des Arztes ist eine Körperverletzung. Er ist deshalb nur gerechtfertigt, wenn eine medizinische Notwendigkeit dazu besteht und wenn der Betroffene ausdrücklich zugestimmt hat; bei noch nicht einwilligungsfähigen Kindern und Jugendlichen kann die Zustimmung der Eltern an die Stelle der Zustimmung der Betroffenen treten. Dagegen fehlte jeder Versuch, den hohen, grundrechtlich abgesicherten Rang der körperlichen Unversehrtheit zu zwei anderen Grundrechten in Beziehung zu setzen, nämlich dem Recht auf Religionsfreiheit und dem elterlichen Erziehungsrecht. Das Gericht hielt nicht einmal eine Abwägung der Frage für notwendig, ob es möglich sei, die religiöse Bedeutung der männlichen Beschneidung und das Recht der Eltern, ihre Kinder in einer religiösen Tradition aufwachsen zu lassen, mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit zum Ausgleich zu
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