Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Verdienstgedanken aus dem Gottesverhältnis des Menschen entfernte. Wenn der Mensch die göttliche Anerkennung nicht durch seine eigenen Leistungen erwirken kann, dann sind auch seine eigenen Glaubensüberzeugungen kein Mittel dazu, Gottes Gnade zu erlangen. Im Glauben geht der Mensch gerade aus sich heraus und verlässt sich ganz auf Gott; in diesem Sinn gilt, dass nicht das Werk, sondern der Glaube die Person konstituiert (Jüngel 1998: 209ff.).
Toleranz gründet, so betrachtet, in einer unbedingten Wahrheitsgewissheit, mit der sich eine unbedingte Achtung für fremde Wahrheitsansprüche verbindet (Härle 2008: 104ff.). In einem solchen «positionellen Pluralismus» wird der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert. Reformatorisch geprägter Glaube stützt sich auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Deshalb können Glaubensüberzeugungen genauso wenig wie sonstige Leistungen einen Grund dafür abgeben, anderen Menschen Gott gegenüber einen minderenStatus zuzuschreiben. Dann aber entfällt auch jede Rechtfertigung dafür, dass im Verhältnis der Menschen zueinander Unterschiede der Religion dafür in Anspruch genommen werden, einander das Menschsein abzusprechen oder die Gleichheit an Würde und Rechten einzuschränken. Voltaire, der sich selbst nicht als einen glaubenden Christen betrachtete, hatte deshalb gute Gründe dafür, den Christen ihren eigenen Glauben vorzuhalten. Aus ihm leitete er ab, dass die Christen nicht nur einander zu dulden, sondern alle Menschen als Geschwister anzusehen hätten.
Wenn Toleranz demzufolge nicht in religiöser Indifferenz, sondern in einer Glaubensüberzeugung gründet, hat das Folgen dafür, wie diese Toleranz praktiziert wird. Wenn Toleranz sich selbst aus einer Wahrheitsgewissheit speist, kann sie nicht die Wahrheitsfrage suspendieren, sondern muss sich im Streit um die Wahrheit bewähren. Wenn gelebte Toleranz eine im Leben bewährte Folge des Gottesverhältnisses ist, kann Religion auch um der Toleranz willen nicht auf Moralität reduziert werden; vielmehr muss die Gottesfrage im Verhältnis zwischen den Religionen eine konstitutive Bedeutung behalten. Deshalb ist die Frage nach Frieden und Toleranz zwischen den Religionen mit der Ausrufung eines «Projekts Weltethos» noch nicht zureichend beantwortet (Küng 1990). Die Antwort kündigt sich erst dann an, wenn die Religionen ihre Differenzen im Glaubensverständnis in einer Weise austragen können, die den Frieden nicht gefährdet, sondern stärkt.
Im Blick auf diese Aufgabe erweist sich die Definition als unzureichend, die sich in der Charta der Toleranz der UNESCO findet: «Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg.» Dem ist entgegenzuhalten: Wo Harmonie herrscht, braucht man keine Toleranz. Als Toleranz lässt sich eher mit Nikolaus Knoepffler eine Einstellung bezeichnen, «wonach eine andere Überzeugung bzw. Praxis zwar für falsch eingeschätzt wird, aber andererseits doch nicht für derart falsch, dass es nicht möglich wäre, diese Überzeugung und Praxis zu dulden» (Knoepffler 2009: 252f.).
Persönliche, gesellschaftliche, politische Toleranz
Blickt man auf die neuzeitliche Entfaltung des Toleranzgedankens, so kann man in ihm systematisch drei Ebenen unterscheiden: die persönliche, die gesellschaftliche und die politische Toleranz (Huber 2005: 88).
Die persönliche Toleranz
ist zu verstehen als eine überzeugte, nicht als eine indifferente Toleranz, denn sonst wäre sie keine Toleranz, die aus der Gewissensfreiheit folgt, handelt es sich bei ihr doch gerade um die Freiheit zur Bildung eigener Überzeugungen und zur Bindung an sie. Sie bezieht sich auf eine Differenz in grundlegenden Überzeugungen; ihr Inhalt ist ein wechselseitiger Respekt trotz dieser Differenz. Diese Toleranz schließt die Bereitschaft ein, Überzeugungen anderer zur Kenntnis zu nehmen, aber auch eigene Überzeugungen anderen gegenüber zu vertreten. Überzeugte Toleranz schafft Raum für den Austausch, das Gespräch und gegebenenfalls auch den Streit um unterschiedliche Wahrheitsgewissheiten. Doch alle Formen dieses Dialogs setzen den Respekt für die Gewissensfreiheit wie für die
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