Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Gewissensbindung des anderen voraus. Die Gesprächskultur in einer pluralen Gesellschaft lebt im Entscheidenden aus der persönlichen Toleranz ihrer Glieder.
Die
gesellschaftliche Toleranz
, die aus ihr folgt, zielt auf eine wechselseitige Achtung von Überzeugungen und Lebensformen. Sie setzt voraus, dass diese nicht selbst der wechselseitigen Achtung widersprechen. Gute, rücksichtsvolle Nachbarschaft und Klarheit der Positionen müssen sich in gesellschaftlicher Toleranz miteinander verbinden (vgl. EKD, Klarheit 2006). Gesellschaftliche Toleranz ist nicht nur bei großen Debatten über kontroverse Themen – beispielsweise die Beschneidung – vonnöten. Vielmehr muss sie sich im Alltag des Zusammenlebens bewähren. Andernfalls können unterschiedliche Bräuche von Kulturen und Religionen leicht zu Konflikten führen. Eine kulturell und religiös plurale Hausgemeinschaft kann solche Konflikte leicht erleben, wenn muslimische Familien im Ramadan das tägliche Fastenbrechen nach Sonnenuntergang ausgiebig begehen, während christlich geprägte Familien den Ostersonntag mit lautstarkem Ostereiersuchen gestalten. Um solche Konflikte zu vermeiden, ist beides nötig: die unterschiedlichen Gewohnheiten zu verstehen und sie in einer Weise zu praktizieren, die das Zusammenleben nicht belastet.
Die
politische Toleranz
schließlich hat ihren Sinn darin, gesellschaftliches Miteinander zu ermöglichen. Sie sichert einen Raum, in dem sich Überzeugungen bilden und entfalten können. Dem dient die Gewährleistung der Religionsfreiheit, die nicht nur – negativ – die Freiheit von der Religion, sondern ebenso – positiv – die Freiheit zur Religion meint. Die Freiheit in religiösen Angelegenheiten umfasst die persönliche Bekenntnisfreiheit, die Freiheit, den Glauben gemeinsam mit anderen zu praktizieren, und die Freiheit zu einer dem Glauben entsprechenden Ausgestaltung religiöser Institutionen. In der Religionsfreiheit verbinden sich also eine persönliche, eine korporative und eine institutionelle Komponente miteinander. In Deutschland kommt das verfassungsrechtlich dadurch besonders klar zum Ausdruck, dass neben der persönlichen Religionsfreiheit und der Freiheit der gemeinschaftlichen Religionsausübung auch die Selbständigkeit der Religionsgemeinschaften in der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten ausdrücklich gesichert ist. Die institutionelle Freiheit ist dabei nur an die Grenzen des «für alle geltenden Gesetzes» gebunden (Art. 137, Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung in Verbindung mit Art. 140 GG). Die institutionelle Freiheit der Religionsgemeinschaften kann nicht durch Spezialgesetze eingeschränkt werden. In Konfliktfällen – beispielsweise über die besondere Gestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts oder den Ausschluss von Frauen aus dem Priesteramt nach den Vorschriften der römisch-katholischen Kirche – ist also jeweils zu prüfen, ob ein «für alle geltendes Gesetz» diesen eigenständigen Regelungen der Religionsgemeinschaften entgegensteht.
Der persönlich, korporativ und institutionell ausgestalteten Religionsfreiheit korrespondiert die Neutralität des Staates in religiösen Fragen; ihm ist die Identifikation mit einer bestimmten Religion oder religiösen Auffassung um der Religionsfreiheit willen verboten. Der Gedanke der Toleranz konnte sich deshalb politisch in dem Maß durchsetzen, in dem die Eingriffsrechte des Staates in Glaubensfragen eingeschränkt wurden. Die Neutralität des Staates in religiösen Fragen schließt jedoch nicht aus, dass er die Bedeutung der Religion für die Lebenshaltungen der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger achtet, die kulturprägenden Wirkungen der Religion respektiert und die Beiträge der Religionsgemeinschaften zum Gemeinwohl – beispielsweise in ihrem diakonischen Wirken und ihren Bildungsaktivitäten – unterstützt. Im Blick auf solche Verbindungen zwischen dem staatlichen Handeln und den Religionsgemeinschaften– bei voller Wahrung ihrer wechselseitigen Unabhängigkeit – hat das Bundesverfassungsgericht von einer «offenen und übergreifenden, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernden» Neutralität gesprochen (Heinig/Musonius 2012: 168ff.).
Zur Freiheit in religiösen Angelegenheiten gehört das Recht zum Wechsel der Religion oder Weltanschauung. Während die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1949 in ihrem Artikel 18 diese Freiheit zum Religionswechsel ausdrücklich vorsieht, ist in der Konvention der
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