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Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
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in dem ein Verbrechen verübt wird oder in dem Menschen, die von ihm betroffen sind, Zuflucht suchen. Die Souveränität des Einzelstaats wird geachtet, aber sie wird als Verantwortung interpretiert. Die Staatengemeinschaft hat zuallererst die Aufgabe, die Einzelstaaten an die Verpflichtungen zu erinnern, die sich aus ihrer Souveränität ergeben. Das zweite Element besteht in der Aufgabe der Staatengemeinschaft, Einzelstaaten, die ihrer Verpflichtung nicht aus eigener Kraft entsprechen können, bei deren Erfüllung in dem Maß zu unterstützen, in dem dieser Beistand erbeten wird. Das dritte Element zeigt sich in der Verpflichtung der Staatengemeinschaftzu rechtzeitigem und wirksamem kollektivem Handeln, und zwar in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen.
    Der entscheidende Ansatzpunkt liegt darin, dass den Einzelstaaten selbst eine völkerrechtliche Pflicht zum Schutz ihrer Bevölkerung zukommt. Sie müssen sich dieser Verpflichtung stellen; im Bedarfsfall können sie dafür die Unterstützung anderer Staaten in Anspruch nehmen. Das Verbot, in die Angelegenheiten der Einzelstaaten einzugreifen, bildet den Ausgangspunkt, doch es verliert in dem Maß an Durchschlagskraft, in dem die einzelnen Staaten ihre genuine Schutzpflicht massiv verletzen. Umstritten ist allerdings, wie schwerwiegend diese Pflichtverletzung sein muss, wenn sie eine Einschränkung des Interventionsverbots rechtfertigen soll.
    Zum subsidiären Handeln der Staatengemeinschaft gehören einerseits friedliche Mittel zum Schutz besonders verletzlicher oder gefährdeter Bevölkerungsgruppen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann darüber hinaus notwendige Maßnahmen unter Einschluss eines militärischen Eingreifens treffen, um fortgesetzte Menschheitsverbrechen zu verhindern. Damit übernimmt er zugleich die Verpflichtung dafür, dass die Sicherheit der Betroffenen auch nach einem solchen militärischen Eingreifen dauerhaft gewährleistet wird. Deshalb ist von Anfang an auf die Beteiligung der betroffenen Bevölkerungsgruppen zu achten.
    Im Unterschied zum Konzept der humanitären Intervention geht der Gedanke der Schutzverantwortung von den Pflichten der Einzelstaaten aus. Die Staatengemeinschaft (also nicht ein intervenierender Einzelstaat oder eine Staatengruppe) wird subsidiär zur einzelstaatlichen Verantwortung tätig. Das Handeln der internationalen Gemeinschaft ist nicht auf die Möglichkeit einer militärischen Intervention beschränkt, sondern verbindet die Komponenten der Prävention, der Reaktion und des Wiederaufbaus miteinander. Die Staatengemeinschaft muss ihre Verantwortung zum Schutz bedrohter Bevölkerungsgruppen vor allem durch nicht-militärische vorbeugende Maßnahmen wahrnehmen. Nur wenn diese scheitern, kann der Einsatz militärischer Gewalt als äußerstes Mittel in Frage kommen. Dabei muss von vornherein bedacht werden, wie ein solches Eingreifen beendet werden kann. Doch die Schutzverantwortung reicht über die Beendigung von Gewaltmaßnahmen hinaus; zu ihr gehört der Beitrag zum Aufbau einer dauerhaften Friedensordnung.
    Als der Bericht der Internationalen Kommission über Intervention und staatliche Souveränität 2001 veröffentlicht wurde, stand die Weltöffentlichkeit im Bann der Terroranschläge auf die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001. Das hemmte die Rezeption der Kommissionsvorschläge. Dem Kampf gegen den Terror galt der Vorrang vor der Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft für Bevölkerungsgruppen, die von Völkermord oder anderen Menschheitsverbrechen bedroht oder betroffen sind. Diese Verschiebung der Aufmerksamkeit war nicht zu rechtfertigen. Es hätte nicht dazu kommen dürfen, dass der Kampf gegen den Terror der Schutzverantwortung für bedrohte Bevölkerungsgruppen im Wege steht. Der Prozess der völkerrechtlichen Kodifizierung des Konzepts der Schutzverpflichtung wurde dadurch erheblich erschwert; damit blieb auch deren völkerrechtliche Verbindlichkeit im Unklaren. Unzureichend bestimmt sind bisher auch die Kriterien dafür, wann dieses Konzept angewandt werden kann. Daran, dass der Völkermord in Ruanda und die ethnischen Vertreibungen im zerfallenen Jugoslawien solche Anwendungsfälle gewesen wären, kann jedoch kein Zweifel bestehen. Trotz aller verbleibenden Unklarheiten ist anzuerkennen, dass dieses Konzept ein wichtiger Schritt auf dem Weg von einer Theorie des gerechten Krieges hin zu einer Theorie des gerechten Friedens

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