Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Soweit dabei theologische Bezüge eine Rolle spielten, verband sich das mit der Vorstellung, der Mensch könne die durch den Sündenfall verlorene Gottebenbildlichkeit durch seine Herrschaft über die Natur aus eigener Kraft wiederherstellen. Auf diese Weise erhielt der von Francis Bacon zu Beginn des 17. Jahrhunderts formulierte Grundsatz der neuzeitlichen Naturwissenschaft «Wissen ist Macht» den Anschein einer religiösen Legitimation. Der Konflikt zwischen einem dramatisch fortschreitenden Verbrauch natürlicher Ressourcen und der Schöpfungsverantwortung trat deshalb erst sehr spät ins Bewusstsein.
Ebenso spät setzte sich die Einsicht durch, dass die biblischen Erzählungen einen solchen Umgang mit der Natur keineswegs rechtfertigen. Vielmehr zielt der Herrschaftsauftrag an den Menschen auf dessen «königliche» Verantwortung für die Integrität der von Gott geschaffenen Welt und für das Lebensrecht seiner Geschöpfe. Insofern widersprechen sich der Kulturauftrag der älteren und der Herrschaftsauftrag der jüngeren Schöpfungserzählung nicht, sondern interpretieren sich wechselseitig (vgl. Lienkamp 2009: 182ff.). Die Fürsorge für die Erde als Lebensraum ist die Aufgabe, die sich aus dem Schöpfungsauftrag ergibt. Die natürlichen Ressourcen sind deshalb in einer Weise zu gebrauchen, die den Fortbestand dieses Lebensraums nicht gefährdet. Verantwortlich ist der Umgang mit den natürlichen Ressourcen nur, wenn er die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen und den Eigenwert der Natur achtet.Angesichts des fortschreitenden Wachstums der Weltbevölkerung und der massiven Gegensätze in den Lebensbedingungen auf der Erde liegt darin eine große Herausforderung, für die sich der Begriff der nachhaltigen Entwicklung eingebürgert hat.
Gegenwartsschrumpfung und Nachhaltigkeit
Nach der Möglichkeit einer nachhaltigen Entwicklung fragen wir in einer Epoche, in der das Zeitgefühl in erheblichem Umfang durch das Phänomen der «Gegenwartssschrumpfung» geprägt ist. Der Zeitraum, für den wir mit einer relativen Konstanz der Lebensverhältnisse rechnen können, wird immer kürzer (Lübbe 2000: 11, 15). Durch die technisch verursachte Beschleunigung entsteht in der geschrumpften Gegenwart zugleich eine Erlebnis- und Handlungsdichte, vor der Vergangenheit und Zukunft verblassen (Rosa 2005: 161ff.). Erinnerung und Hoffnung werden gegenüber dem aktuellen Erleben sekundär. Auch die Beschäftigung mit den Toten und das Nachdenken über das Leben derer, die nach uns kommen, verlieren, so scheint es, an Bedeutung.
Die Wirkungen unserer Handlungen stehen aber in einem umgekehrten Verhältnis zu dieser Gegenwartsschrumpfung. In weit höherem Maß als frühere Generationen verbrauchen wir durch unser Handeln Vergangenheit und determinieren zugleich Zukunft. Der Vergangenheitsverbrauch zeigt sich vor allem als Destruktion kultureller Bestände. Der technisch induzierte Veränderungssog zehrt kulturelle Lebensformen auf, ohne dass erkennbar wäre, was an deren Stelle treten soll. Vielleicht finden sich Äquivalente zu der am selben Ort beheimateten Familie, zum gemeinsamen Rhythmus des Tages und der Woche, zu eingelebten Formen, mit den großen Einschnitten des Lebens zwischen Geburt und Tod umzugehen, oder zur Beheimatung in religiösen Riten und Überzeugungen. Aber ob es zu solchen Äquivalenten kommt, ist ungewiss. Ein Zweifel daran sollte kein Grund dafür sein, dem gesellschaftlichen Wandel eine reaktionäre Veränderungsabwehr entgegenzusetzen. Es gibt aber gute Gründe dafür, die eingeschlagene Richtung kritisch zu bedenken, denn eingelebte kulturelle Institutionen lassen sich leicht zerstören, aber nur schwer wieder aufbauen. Formen des gemeinsamen Lebens völlig neu zu institutionalisieren, ist weit schwerer, als sie vom Gegebenen aus weiterzuentwickeln.Deshalb ist das gegenwärtige Tempo des Vergangenheitsverbrauchs mit Risiken verbunden, die für niemanden kalkulierbar sind. Ob der Auflösung kultureller Traditionen ein vergleichbares Maß an Kulturproduktivität entspricht, bleibt fraglich.
Im Blick auf die diachrone Gerechtigkeit wird vergleichsweise selten darüber nachgedacht, wie wir mit dem umgehen, was wir von vorangegangen Generationen übernommen haben oder übernehmen können. Häufiger ist davon die Rede, wie wir künftigen Generationen Handlungsmöglichkeiten hinterlassen, die denen vergleichbar sind, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Deutlicher als die Auflösung
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