Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
einer umweltschädlichen Aktivität die Folgekosten zuschreibt.
In diesen frühesten Definitionen des Vorsichtsprinzips wurde hervorgehoben, dass mögliche Gefährdungen der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen oder schädliche Folgen für die Umwelt auch dann zum Handeln verpflichten, wenn über diese möglichen Auswirkungen keine letzte wissenschaftliche Gewissheit besteht. Dieser Gesichtspunkt ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil alle Wissenschaft unter dem Vorbehalt besserer Erkenntnis steht, sondern weil Prognosen über dieFolgen heutiger Handlungen immer Möglichkeitscharakter haben (vgl. Picht 1980: 362ff.). Natürlich gibt es wissenschaftliche Aussagen über die Zukunft von höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit. Auch wenn eine Heuristik der Furcht angewandt wird, kann bessere Einsicht zur Überprüfung bisheriger Urteile führen. Fortschritte von Wissenschaft und Technik können eine veränderte Einschätzung von Chancen und Risiken zur Folge haben. Deshalb ist das Vorsichtsprinzip in einer revisionsoffenen Weise einzusetzen.
Manche haben dieses Prinzip so interpretiert, dass es eine bestimmte Beweislastregel enthält. So erklärte die Kommission der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 2000, dass in Fällen, in denen Strahlenbelastungen oder giftige Stoffe an die Biosphäre abgegeben oder großflächige Rodungen vorgenommen werden, die Beweislast nicht bei denen liegt, die eine Schädigung von menschlicher Gesundheit und Umwelt befürchten, sondern bei den Initiatoren einer solchen Aktivität. Wenn der schlechten Prognose der Vorrang vor der guten zukommt, dann ist der beweispflichtig, der die schlechte Prognose entkräften will. Dadurch entsteht jedoch der Eindruck, dass jeder, der eine neue Technologie oder beispielsweise einen neuen Impfstoff entwickelt, nachweisen muss, dass dies mit keinerlei Risiken verbunden ist. Das Vorsichtsprinzip hätte insofern die Idee einer Null-Risiko-Gesellschaft zur Konsequenz; der schlechteste Fall würde unabhängig von seiner Wahrscheinlichkeit zum Entscheidungsmaßstab (Sunstein 2007). Es ist aber ohnehin fragwürdig, die aus dem Prozessrecht stammende Vorstellung von einer Beweislast auf solche Entscheidungen zu übertragen. Vielmehr sollten in einem möglichst transparenten Verfahren die Argumente beider Seiten ausgetauscht und abgewogen werden. Am Ende muss auf der Grundlage ethischer Überlegungen politisch entschieden werden, welcher Seite das größere Gewicht zukommt.
Welche Bedeutung kommt in einer solchen Abwägung dem Ausmaß zu erwartender Gefahren zu? In der Wissenschaft werden künftige Schäden üblicherweise so gewichtet, dass man eine Zahl für das Ausmaß des Schadens mit einer Zahl für die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens multipliziert; bei geringer Wahrscheinlichkeit hat dies zur Folge, dass eine große Gefährdung für Mensch und Umwelt vernachlässigt wird. In neuerer Zeit trat jedoch das eigenständige Gewicht irreversibler Konsequenzen in den Blick; auch in mathematische Modelle wurde dieser Gesichtspunkteinbezogen. Deshalb wird es heute als rational anerkannt, Handlungen, die möglicherweise mit hohen Risiken verbunden sind, auch dann gemäß dem Vorsichtsprinzip zu behandeln, wenn nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für das Eintreten dieser Risiken besteht. Die deutsche Ethikkommission über «Sichere Energieversorgung» hat diese Überlegung zum Kernpunkt ihrer Argumentation gemacht (Ethik-Kommission 2011: 35). Es ist kein Gebot rationalen Vorgehens, sich in jedem Fall an den Erwartungswert eines Ereignisses zu halten, der sich aus der Multiplikation von Schadensausmaß und Schadenswahrscheinlichkeit ergibt. Es ist vielmehr eine rational begründbare Entscheidung, ein hohes Ausmaß irreversibler Schäden auch dann als Entscheidungsgrund anzuerkennen, wenn sein Eintreten nur mit geringer Wahrscheinlichkeit erwartet wird. Im technologischen Zeitalter ist es ein zentraler Gegenstand öffentlicher Ethik, welches Risikoniveau eine Gesellschaft auf sich nehmen und nachfolgenden Generationen aufbürden will. Die Energieversorgung ist dafür ein Schlüsselthema. Die Entscheidung, die Nutzung der Kernenergie innerhalb eines Jahrzehnts zu beenden, ist deshalb ethisch gut begründet und rational nachvollziehbar.
Gelegentlich wird vorgebracht, die Anwendung des Vorsichtsprinzips berge ihre eigenen Gefahren. Max More hat dafür die Formel von den
perils of precaution
geprägt (More 2010). Er präsentiert eine lange Liste der
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